Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Wenzel Holek, Meine Erfahrungen in Berlin Ost, hrsg. von Rolf Lindner, Verlag Böhlau, Köln etc. 1998, 222 S., brosch., 39,80 DM.

Der Titel des Buches ist leicht misszuverstehen. Denn wer den Namen Wenzel Holek nicht kennt, mag den Bericht über dessen Erfahrungen in Berlin Ost als Lebenserinnerungen aus der ehemaligen Hauptstadt der DDR deuten. Tatsächlich handelt es sich, wie der Herausgeber Rolf Lindner in der Einleitung erklärt, um den dritten Teil einer Autobiographie des deutsch-tschechischen Arbeiters Wenzel Holek, in der dieser seine Tätigkeit als Jugenderzieher in der "Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost" zwischen dem Ersten Weltkrieg und Mitte der Zwanzigerjahre beschreibt.

Holeks Autobiographie steht in der Tradition der Arbeiterautobiographie Paul Göhres, der in den 1890er-Jahren sein Buch "Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche" mit dem Ziel herausgegeben hat, auch bürgerlichen Kreisen „die Wahrheit über die Verhältnisse in der Arbeiterklasse" nahe zu bringen. Göhre fungierte auch als Herausgeber von Holeks Lebenserinnerungen, der in den Zwanzigerjahren einen ähnlichen aufklärerischen Anspruch mit seiner Autobiographie verfolgte. Wie Lindner anmerkt, führte Holek vor dem Hintergrund seiner Vermittlungsversuche eine "hybride Existenz" zwischen Proletarier und Bildungsbürger, die ihn für den radikalen Flügel der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik ebenso suspekt machte wie für die Chronisten in der DDR, denen seine „klassenversöhnlerische" Position missfiel. Dass Holeks Autobiographie in der gegenwärtigen Situation und Diskussion um kulturalistische Einflüsse in der Sozialgeschichtsschreibung an Aufmerksamkeit gewinnt, erstaunt deshalb ebensowenig wie die Tatsache, dass das Buch als Band 2 einer neuen Reihe zum Thema "Alltag & Kultur" vom Institut für Europäische Ethnologie und der Landesstelle für Berlin-Brandenburgische Volkskunde der Humboldt-Universität herausgegeben wird.

So vermitteln Holeks Erinnerungen aus der Zeit des Ersten Weltkriegs und der Weimarer Republik denn auch bislang wenig bekannte alltagshistorische Eindrücke über ein sozialpolitisches Modell, das aus dem Viktorianischen England ins Wilhelminische Deutschland übertragen wurde. Dessen Ziel war, die Situation Jugendlicher in Arbeitermilieus zu studieren, soziale Hilfsdienste zu leisten, den Jugendlichen eine sinnvolle Freizeitgestaltung anzubieten und darüber Klassengegensätze abzubauen. Damit wurden neue Wege der Jugendarbeit beschritten, die von den moralisierenden und aus Holeks Sicht "weltfremden" Modellen etwa der Kirchen deutlich abwichen. "Das Vorlesen moralisch zugeschnittener Abhandlungen macht auf die Jungen fast keinen Eindruck", so Holek. "Man merkt es ihnen an, dass sie stets den Verdacht hegen, als hätte man sich ganz absichtlich etwas Moralisches zurecht gesucht für sie". Die "Soziale Arbeitsgemeinschaft" gründete stattdessen Jugendklubs, veranstaltete Turnabende, beschäftigte Jugendliche mit Gartenarbeit in der Laubenkolonie, organisierte Vorträge und Theatervorführungen und Ferienfreizeiten auf einem Gut in Pommern. Holek war, modern ausgedrückt, eine Art Sozialarbeiter, der sich in der Berliner Kneipenszene auskannte, sich mit straffälligen Jugendlichen auseinandersetzte und Verständnis für die Sexualbedürfnisse seiner Schützlinge aufbrachte. Deren Alltagsprobleme, das waren Holeks Erfahrungen, konnten nicht mit einem Schlag durch eine Revolution beseitigt werden. Das politische System mochte sich mit der Revolution 1918 verändert haben, die Alltagsprobleme blieben. "Diese geschichtliche Ereignis zu übergehen, würde in diesem Buch eine Lücke bedeuten", so Holeks Anmerkungen zur Novemberrevolution. "Wohl kann ich nur das erzählen, was ich selbst beobachtet habe. Ich muß auch gestehen, daß dies das unangenehmste Kapitel ist worüber ich mit gemischten Gefühlen schreibe. Denn als ich vor 45 Jahren die Arbeiterbewegung kennenlernte und ihr begeisterter Anhänger wurde, da erhofften wir uns eine andere Entwicklung, als sie sich heute darstellt. Wer von uns hätte glauben wollen, dass es in 45 Jahren kaum einen Arbeiter geben sollte, der wenigstens aus seiner Lage heraus einzusehen vermochte, wo die Ursachen seiner materiellen und geistigen Not, wie auch die seiner wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeit zu finden sind...Der Glaube an diese Prophezeiung gab uns damals die Kraft zum Kampf und die Hoffnung zu einer schnelleren Vollziehung dieser Entwicklungsgeschichte, die uns noch Nutznießer dieser Früchte werden lassen sollte. Aber mit der Zeit sahen wir mit eigenen Augen, daß die Sache doch nicht schnell ging".

Holek schildert in seiner Autobiographie eindrucksvoll die Macht des Alltags, die stärker war als die Novemberrevolution. Er bestätigt aus heutiger Perspektive damit zugleich die Bedeutung der Alltagsgeschichte, die auch vor dem Hintergrund sozial-, politik- und wirtschaftshistorischer Fragestellungen in angemessener Form berücksichtigt werden sollte.

Christian Kleinschmidt, Bochum



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