Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Dirk Hänisch, Die österreichischen NSDAP-Wähler. Eine empirische Analyse ihrer Herkunft und ihres Sozialprofils, Verlag Böhlau, Wien etc. 1998, 492 S., brosch., 98 DM.

Wie die Geschichte der Weimarer Republik wird die wirtschaftliche und politische Entwicklung Österreichs allgemein in drei Zeitabschnitte geteilt. Die erste Phase umfasst den Zeitraum zwischen 1918 und 1922/23, also die unmittelbare Nachkriegszeit mit ihren Begleiterscheinungen wie Hungersnot, Hyperinflation und der anschließenden Währungssanierung. Die zweite Phase zwischen 1923 und 1929 wird allgemein als Periode der relativen Stabilisierung bezeichnet, während die dritte Phase bis 1934 durch die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise charakterisiert wird.

Die Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei (DNSAP) beteiligte sich bereits 1919 an der Wahl zur konstituierenden Nationalversammlung, erlangte aber kein Mandat. Bis Ende der Zwanzigerjahre ist die Organisationsgeschichte der österreichischen Nationalsozialisten durch interne Streitereien gekennzeichnet. Erst Mitte 1931, mit der Anbindung der österreichischen Nationalsozialisten an die deutsche NSDAP, setzte ein deutlicher Aufschwung in der Mitgliederentwicklung ein. Als Durchbruch der österreichischen NSDAP in der Wählergunst gelten die Landtagswahlen in Niederösterreich und Salzburg zusammen mit der Gemeindewahl im April 1932, bei denen etwa zwei Drittel der in Österreich Wahlberechtigten zur Wahlurne gerufen wurden. Insgesamt erhielten die Nationalsozialisten in diesen Wahlen 16,3% der gültigen Stimmen.

Dirk Hänisch legt mit seinem Werk die erste Studie vor, die auf solider empirischer Analyse fußt und sich ausgiebig der Methoden der modernen historischen Wahlforschung bedient. Der Untertitel des Buches signalisiert den Schwerpunkt des Werkes, es geht um die Frage nach der parteipolitischen und sozialen Herkunft der österreichischen NSDAP-Wählerschaft. Die statistische Auswertung erfolgt auf den Ebenen der Wahlbezirke, Gemeinden, Gerichtsbezirke sowie der politischen Bezirksebenen. Allein auf Gemeindeebene umfasst der Datensatz 4386 Fälle. Die Wahlergebnisse setzt Hänisch in Beziehung zu den Informationen über die Sozialstruktur, die aus den Volkszählungen von 1934 und 1939 vorliegen.

Zwar beschreibt der Autor eingangs im Überblick die Wahlentwicklung über den gesamten Zeitraum der Ersten Republik, den empirischen Untersuchungsrahmen bilden hingegen die Nationalrats-, Landtags- und Gemeindewahlen zwischen 1927 und 1933. Die letzte Wahl, die in die Untersuchung aufgenommen wurde, ist die Gemeinderats-Ergänzungswahl in Innsbruck vom 23. April 1933. In dieser Abstimmung wurde die NSDAP stärkste Partei in der Landeshauptstadt. Sie erhielt die Stimmen von knapp 36% aller Wahlberechtigten. Einigkeit besteht darüber, dass die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler dynamisierend wirkte. Das Wahlergebnis war für Bundeskanzler Dollfuß der Auslöser, um mit Hilfe einer Notverordnung einen Monat später alle weiteren Wahlgänge auszusetzen.

Es liegt nahe, nach Parallelen zu Deutschland zu fragen: "War die österreichische NSDAP seinerzeit wie die deutsche wählermäßig eine Volkspartei des Protestes, die alle Schichten mehr oder weniger erfaßte oder war sie eher ein Mittelstandspartei?" (S. 16) Der Befund: Sozialstrukturell betrachtet, fand die NSDAP kaum Zugang zum agrarischen Sektor, blieb mehr oder weniger unterdurchschnittlich im industriell-gewerblichen Bereich vertreten und war im tertiären Sektor überproportional repräsentiert. Im städtischen Bereich votierte nur ein geringer Anteil der dortigen Arbeiter nationalsozialistisch, der überwältigende Teil stand ungebrochen zur Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP). In Anlehnung an Jürgen W. Falters Charakterisierung der Wählerschaft Hitlers kommt Hänisch zu dem Schluss: "Bildlich gesehen handelt es sich um eine sehr schief geschichtete Partei mit stark überquellendem "Mittelstandsbauch" und einer extrem schmalen Bauernbasis." (S. 402)

Extrem segmentiert, prägten die beiden großen politisch-ideologischen Lager das politische Leben und die Gesellschaft in Österreich. 90 % der Bevölkerung war römisch-katholisch. Wichtige Unterstützung erhielt die konservativ-katholische Christlichsoziale Partei (CSP) durch die Bischöfe. Noch in der Nationalratswahl 1930 votierten fast 70% der Wahlberechtigten entweder für die CSP oder für die SDAP. Politischer Katholizismus und Sozialismus lieferten die entsprechenden Deutungsmuster sozialer und politischer Realitäten und schufen eine enge weltanschauliche Bindung der Wählerschaften an die jeweiligen Parteien. Die verfestigte Lagerstruktur des österreichischen Parteiensystems wirkte hemmend auf den Erfolg der Nationalsozialisten. Zusätzlich hat die zeitweilige teilfaschistische Konkurrenz durch den Heimatblock einen frühen Aufstieg verhindert. Die Wähler der österreichischen NSDAP waren Anfang der Dreißigerjahre heterogener politischer Herkunft, jedoch besaß die nationalsozialistische Anhängerschaft keine pluralistische Strukturierung, ehemalige städtische Deutschnationale waren ebenso wie Heimatblock-Wähler deutlich überrepräsentiert. Gegen eine Deklarierung als genuin bürgerliche Partei spricht der Anteil an ehemaligen SDAP-Wählern. Dieser war zwar leicht unterdurchschnittlich, dennoch kam 1930 fast jeder dritte ehemalige NSDAP-Wähler außerhalb Wiens aus den Reihen der SDAP. Somit besitzt diese Herkunftsgruppe in Österreich einen ähnlich bedeutenden Stellenwert wie in der deutschen NSDAP-Wählerschaft. Eine weitere Parallele betrifft die immer wieder vermutete Kausalbeziehung zwischen Arbeitslosigkeit und NSDAP-Erfolg. Analog zu Untersuchungen über Deutschland konnte Hänisch keine empirischen Belege für einen direkten Zusammenhang zwischen der Höhe der Erwerbslosigkeit einerseits und der Höhe des NSDAP-Wähleranteils andererseits feststellen.

Der empirische Zugriff der Arbeit geht ein wenig zu Lasten der historischen Einbettung. So fällt der Abschnitt über die politische und sozioökonomische Entwicklung der Ersten Republik recht knapp aus. Für den mit der österreichischen Geschichte weniger vertrauten Leser ergibt sich daher zuweilen die Schwierigkeit, die einzelnen Wahlen vor ihrem politischen Hintergrund einzuordnen. Dies soll jedoch die Verdienste des Autors nicht schmälern. Künftige Darstellungen zur nationalsozialistischen Wählerschaft in Österreich werden sich an Hänischs Pionierstudie messen lassen müssen. Ein mehr als 50-seitiger Anhang enthält Tabellen und thematische Karten, wie sie bisher in diesem Umfang nicht vorlagen, wodurch das Buch zusätzlich zu einem Nachschlagewerk von großem Nutzen wird.

Martin Liepach, Oberursel



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