Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Hans-Peter Goldberg, Bismarck und seine Gegner. Die politische Rhetorik im Kaiserlichen Reichstag, Verlag Droste, Düsseldorf 1998, 359 S., Ln., 118 DM.

Es gilt, hier ein höchst informatives und erfrischend zu lesendes Buch vorzustellen, das der Untersuchung der politischen Rhetorik von vier prominenten Rednern im deutschen Reichstag gewidmet ist, nämlich August Bebel, Eugen Richter, Ludwig Windthorst und Otto von Bismarck. Die Wahl hätte kaum besser ausfallen können, denn diese Persönlichkeiten standen für radikal unterschiedliche rhetorische Stile und gehörten unterschiedlichen politischen Lagern an. Mehr noch, sie waren jeweils auf ihre Weise glänzende politische Redner, denen auch die jeweiligen gegnerischen Parteien ihren Respekt niemals versagten. Goldberg verwendet die Methoden des Sprachwissenschaftlers, und sein Ziel ist es, präzise rhetorische Porträts der von ihm gewählten Persönlichkeiten zu zeichnen. Aber diese Methode weist insofern über ihren Gegenstand hinaus, als sie als repräsentativ für vier zentrale politische Milieus im Kaiserreich gelten kann, das sozialdemokratische, das linksliberale, das katholische und mit Einschränkungen, die durch die besondere Stellung Bismarcks bedingt ist, für das konservative. Eingangs gibt Goldberg eine Übersicht über die in der bisherigen Literatur verfügbaren Analysen politischer Reden und politischer Rhetorik; nur im Falle Bismarcks gibt es davon mehr, freilich, wie er betont, in aller Regel mit starken politischen Verzeichnungen (vielleicht sollte man hier die einschlägige Studie Gerhard Masurs etwas milder beurteilen). Informativ für den Historiker ist auch die vorangestellte Darlegung der Geschäftsordnungspraxis und der äußeren Bedingungen, unter denen Reden im Reichstag gehalten wurden, einschließlich der Praxis der Erteilung von Ordnungsrufen der Parlamentspräsidenten. Dabei werden bemerkenswerte Einblicke in die politische Kultur im Deutschen Reich gewonnen. Etwas verwundert nur, dass der Autor die räumlichen Verhältnisse des Wallot-Baus eingehend analysiert, obschon die Mehrzahl der von ihm behandelten Persönlichkeiten im damals neuen Reichstag, der erst 1894 eingeweiht worden ist, gar nicht mehr aufgetreten ist. Insgesamt stützt sich Goldbergs Untersuchung auf eine bemerkenswert genaue Analyse der erreichbaren Quellen und ist auch, was das historiographische Umfeld angeht, bemerkenswert gut informiert. Er zeigt inter alia, dass man die veröffentlichten Reichstagsprotokolle nur mit Vorsicht als unmittelbar zuverlässig ansehen kann, da die Redner, und hier insbesondere Bismarck, vielfach massiv in die ursprünglichen stenographischen Aufzeichnungen eingegriffen haben; Horst Kohls bekannte Edition der Reden Bismarcks verfällt übrigens wegen zahlreicher Manipulationen der ursprünglichen Texte harscher Kritik.

Der Redestil Bebels wird als insgesamt nüchtern, mit detailscharfen Berichten, präzisen Analysen und lehrhaften Formen beschrieben; allerdings betont Goldberg gleichzeitig, dass Bebel aus der weltanschaulichen Gewissheit eines überzeugten Sozialdemokraten heraus seinen Gegnern mit großer Souveränität entgegenzutreten vermochte, nicht selten vermischt mit einer Menge von Humor. Eugen Richter hingegen pflegte einen Stil der messerscharfen Analyse, die insbesondere auf die Entzauberung der Schlüsselbegriffe des jeweiligen Gegners – und dies war zumeist Bismarck – abzielte, und dabei mit großer Wucht und Schlagkraft zu argumentieren vermochte. Goldberg vergleicht dies mit der Rhetorik Catos. Gleichzeitig beherrschte Richter meisterhaft die Waffe der satirischen Antikritik. Besonders faszinierend ist die Analyse der Rhetorik Ludwig Windthorsts, der, zumeist aus einer Defensivposition heraus die Politik des Zentrums zu vertreten hatte. Nicht die direkte Konfrontation, sondern das Bemühen um Verständigung und Kompromiss zeichnet seinen Redestil aus, nicht selten greift er zum Mittel der Selbstverkleinerung, um damit die Polemik seiner Gegenspieler ins Leere laufen zu lassen oder gar ad absurdum zu führen. Goldberg beschreibt Windthorsts Redestil insgesamt als eine Rhetorik der Balance, die weit mehr als diejenige Bebels oder Richters über ein breites Spektrum bildungsbürgerlicher, zugleich aber auch volkstümlicher Stilmittel verfügte. Windthorsts persönlicher Beitrag zur parlamentarischen Kultur des Kaiserreichs kann insgesamt kaum überschätzt werden.

Schließlich Bismarck. Der Kanzler beherrschte die parlamentarische Szenerie schon äußerlich, dank der ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten als Kanzler, und er konnte es sich leisten, ausdrücklich festzustellen, dass er sich der Disziplinargewalt des jeweiligen Parlamentspräsidenten nicht unterworfen fühle. Das Bild, welches Goldberg von Bismarcks rhetorischem Auftreten im Reichstag zeichnet, weicht durchaus von dem eines stets die Lage souverän beherrschenden Redners ab. Bismarcks Reden wirkten vornehmlich durch die Verwendung narrativer Bauelemente, die dem Zuhörer unmittelbar eingängig waren und die er oft mit der Berufung auf persönliche Erfahrungen oder Erinnerungen abstützte, weit seltener durch die Heranziehung von Dokumenten. Sie waren auf weiten Strecken angelegt auf eine höchst wirksame Selbstinszenierung. Ergänzt wird dies durch den ironischen Stil, in dem Bismarck mit seinen Gegnern umging. Obwohl er ihnen versicherte, dass er sie ganz honorig finde, pflegte er sie als Angehörige des verwerflichen Standes der Berufspolitiker und zugleich auch als Personen herabzusetzen. Am Bedeutsamsten war langfristig gesehen Bismarcks Fähigkeit, durch eine affektiv wirkende Ideologisierung des eigenen Herrschaftsstils die deutsche politische Kultur in obrigkeitlichem Sinne zu prägen. Man wird Goldberg darin zustimmen müssen, wenn er zu dem Ergebnis kommt, dass Bismarcks rhetorische Fähigkeiten heute nicht mehr politisches Vorbild sein können, gleichwohl aber „dem distanzierten Leser" immer noch „ein erhebliches intellektuelles Vergnügen" zu bereiten in der Lage sind.

Der Reichtum an Beobachtungen, die sich in dieser Studie finden, lässt sich an dieser Stelle nur unvollkommen würdigen. Sie lehrt unter anderen, dass der Stil und die Formen der politischen Auseinandersetzungen im kaiserlichen Reichstag weit niveauvoller und farbenreicher waren, als gemeinhin angenommen wird.

Wolfgang J. Mommsen, Berlin/Düsseldorf



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