Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Peter Fritzsche, Germans into Nazis, Harvard University Press, Cambridge, Mass. 1998, geb., 269 S., 24,95 $.

Nach mehreren Arbeiten zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert hat Peter Fritzsche nun einen höchst anregenden, ja streckenweise brillianten Essay zum Aufstieg des Nationalsozialismus vorgelegt, der die Thesen seiner 1990 als Buch erschienenen Dissertation ("Rehearsals for Fascism. Populism and Political Mobilization in Weimar Germany") im Licht jüngster Forschungen insbesondere zum Ersten Weltkrieg erweitert und zuspitzt. Dem Verfasser geht es nicht darum, den Weg der NSDAP zur Macht in allen seinen Aspekten darzustellen, sondern er will vielmehr herausarbeiten, wie sich die politische Kultur Deutschlands im Zeichen populistischer Stimmungen und Konzepte seit 1914 umgestaltete und die NS-Bewegung sich dieser Veränderungen am erfolgreichsten zu bedienen wusste. Der Essay ist chronologisch aufgebaut: Drei etwa gleich lange Kapitel, die mit eindringlichen Schilderungen der politisch entscheidenden Tage im Juli 1914, November 1918 und Januar 1933 einsetzen, behandeln die Zeit zwischen dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler; ein knappes Schlusskapitel skizziert die Kontinuität populistischer Politik unter dem nationalsozialistischen Regime.

Die originellsten Thesen enthält das erste Kapitel, das die Kriegserfahrungen untersucht. Fritzsche zeichnet ein differenziertes Bild des "August"-Erlebnisses, das er anknüpfend an jüngste Arbeiten als Konglomerat unterschiedlicher Erwartungen und Ängste zunächst gleichsam dekonstruiert, um es dann als Beginn eines neuen Konzepts von Politik zu interpretieren, da sich hier zum ersten Mal der bürgerliche Teil der Bevölkerung, unorchestriert von der Obrigkeit, die Straße als politischen Aktionsraum zu Eigen gemacht habe. Damit sei zugleich der deutsche Nationalstaat auf eine neue Grundlage gestellt worden, indem er von nun an nicht mehr von der monarchischen Ordnung, sondern vom Volk her, als "Volksgemeinschaft" definiert wurde. Der mit dem Verlauf des Krieges fortschreitende Legitimätsverfall dieser alten Ordnung, wie er seit den 70er Jahren in einer Reihe von Arbeiten detailliert nachgezeichnet worden ist, rückt in einer solchen Perspektive, die sich weder auf die Parteien- noch auf die Sozialgeschichte im klassischen Sinn richtet, an den Rand. Vielmehr unterstreicht Fritzsche, wie lange der größte Teil der Bevölkerung die Kriegsanstrengungen mittrug, wobei er unter anderem auf die Aktivitäten des "Nationalen Frauendienstes" und anderer vor allem bürgerlicher Organisationen, die hohe Zahl der Zeichner von Kriegsanleihen und auch auf die bisher wenig beachtete bildliche Omnipräsenz des Krieges in Millionen von Postkarten, Darstellungen der Kriegshelden oder der flächendeckenden Verbreitung hölzerner Hindenburg-Statuen hinweist. Diese Mobilisierung im Zeichen des "Durchhaltens", auch das hebt Fritzsche hervor, kam von unten und war nicht das Ergebnis einer Manipulation von oben, wie sie von der 1917 gegründeten, in ihrer Bedeutung lange überschätzten Vaterlandspartei versucht wurde.

Als das Kaiserreich im November 1918 zusammenbrach, stand deshalb auch keineswegs ein vor Schreck erstarrtes Bürgertum einer über einen großen Mobilisierungsvorsprung verfügenden Arbeiterbewegung gegenüber. Fritzsche, der hier vor allem an Hans-Joachim Bieber anknüpft, unterstreicht vielmehr die Kontinuitäten der Mobilisierung des Bürgertums, wo es jetzt und in den folgenden Jahren zu einer Welle von Bürgerrats- und anderen Vereinsgründungen auf vielen Gebieten kam, deren Verhältnis zur neuen Republik erst allmählich einen dezidiert feindlichen Charakter annahm. Am Vordringen der Interessenparteien nach dem Ende der Inflation 1924 weist er auf die neuartigen Züge hin, vor allem auf die Prominenz des Arbeitsbegriffs, der traditionelle Berufs- und Qualifikationsunterschiede einebnen half und auch auf Wähler aus der Arbeiterschaft zielte. Hier zeichnete sich das Potenzial einer nationalen Sammlungsbewegung unter antimarxistischen Vorzeichen ab, die sich von den traditionellen Eliten in den erodierenden bürgerlichen Parteien absetzte, vermeintliche programmatische Breite mit der moralisch aufgeladenen Vision einer neuen Ordnung verband, sich moderner Werbemethoden bediente, ohne in leeren Aktionismus zu verfallen, und zugleich in die vorhandenen Organisationsnetze eindrang. All dies „leistete" die NSDAP, wie Fritzsche überzeugend darlegt, ohne in die Fehler des sich auf die Bauern konzentrierenden „Landvolks" oder des programmatisch hilflosen "Stahlhelm" zu verfallen. Dieser – auf seine Weise – innovative Charakter der NSDAP war es, der sie zur Massenbewegung machte, nicht die Auswirkungen des Versailler Vertrages oder der Weltwirtschaftskrise, wie Fritzsche gegen ältere Deutungen hervorhebt; es war auch nicht ein besonderer deutscher Antisemitismus, wie er gegen Goldhagens These mit Nachdruck einwendet. Das Bild der späten Weimarer Republik hellt sich dadurch aber nur wenig auf. Auch wenn Hitler im Januar 1933 nicht zum Kanzler ernannt und die NSDAP auseinandergebrochen wäre, hätte dies keine Rückkehr zur Republik der mittleren Jahre bedeutet; dafür seien die Wähler der NSDAP den alten Parteien zu weit entfremdet gewesen.

Fritzsches Essay enthält eine Fülle von Einsichten und Anregungen, die hier nur angedeutet werden konnten. Seine auf die Entwicklungslinien populistischer Politik gerichtete Argumentation besitzt nach Ansicht des Rezensenten nicht nur größere Erklärungskraft für den Untergang Weimars als solche Modelle, die sich auf die Probleme der Gründungsjahre 1918-23 oder die Krisenjahre nach 1929 beziehen, sie lässt vor allem auch die politischen Gestaltungsspielräume in der Weimarer Republik als deutlich größer erscheinen und eröffnet der Forschung damit neue Perspektiven. Wenn die Revolution viel weniger als Schock denn als Mobilisierungsschub im Zeichen einer zu erneuernden "Volksgemeinschaft" auf bürgerlicher Seite erscheint, dann ist zu fragen, warum hier (und auf seiten der SPD) die darin liegenden Chancen nicht genutzt wurden. Wenn der Erfolg der NSDAP in erster Linie auf ihren Innovationen als Volkspartei beruhte (und weniger oder gar nicht auf ihrem auf seine Weise charismatischen Führer oder der Zusammenarbeit mit anderen Gruppen der Rechten) – welche Chancen hätten dann andere potenzielle Volksparteien, die DNVP, das Zentrum, aber auch die SPD, mit einer vergleichbaren Strategie gehabt und warum haben sie sie nicht oder zu wenig genutzt? Das verlangt freilich eine Erweiterung der Untersuchungsperspektive über die bürgerlichen Parteien hinaus. Hier liegt die Schwäche von Fritzsches Studie. Die Haltung der SPD, später der KPD und ihrer Mitglieder- und Wählerschaft zur populistischen Umgestaltung der politischen Kultur wird von ihm allenfalls gestreift. Wie viele sozialdemokratische Arbeiter (und Arbeiterinnen) die seit dem August 1914 als möglich erscheinende "Volksgemeinschaft" mit ähnlichen Vorstellungen verbanden wie Bürger, Bauern und den Konservativen nahestehende Arbeiter, bleibt offen, zumal die "Volksgemeinschaft" des Krieges gegen den äußeren Feind definiert war, der in den Weimarer Jahren weitgehend durch den inneren abgelöst wurde. Fritzsche diskutiert auch nicht, welchen Einfluss der von den Kommunisten präsentierte neue radikale Politikentwurf auf die Formierung des bürgerlich-nationalen Populismus ausübte; dies hätte eine eingehendere Betrachtung verdient, auch wenn vieles dafür spricht, die von Ernst Nolte und anderen neuerdings wieder mit Nachdruck vertretenen These von einer etwa gleich großen Bedrohung Weimars durch Kommunisten und Nationalsozialisten zurückzuweisen. Diese Einwände sollen den Rang (auch den stilistischen) von Fritzsches Essay nicht schmälern. Er könnte sich als Grundlage einer neuen Deutung des Untergangs der Weimarer Republik erweisen, die jene auf strukturelle Belastungen oder aber auf politische Entscheidungsträger rekurrierenden älteren Modelle verbindet und erweitert.

Dirk Schumann, Atlanta



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