Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Andreas Biefang (Bearb.), Der Gesamtdeutsche Ausschuß, Sitzungsprotokolle des Ausschusses für gesamtdeutsche Fragen des Deutschen Bundestages 1949-1953, Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 4. Reihe: Deutschland seit 1945, Bd. 12, Verlag Droste, Düsseldorf 1998, CXI, 785 S., Ln., 168 DM.

Es gibt Quelleneditionen, da fragt man sich, warum sie erst jetzt veröffentlicht werden. Zu diesen gehört zweifellos die kommentierte Ausgabe der Sitzungsprotokolle des Ausschusses für gesamtdeutschen Fragen des Deutschen Bundestages (kurz: "Gesamtdeutscher Ausschuss") zwischen 1949 und 1953, die 1998 im Auftrag der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien vorgelegt wurde.

Die Bildung eines Gesamtdeutschen Ausschusses war bereits 1949 unmittelbar nach der Gründung des zunächst als kurzfristiges "Provisorium" gedachten westdeutschen Teilstaates ins Auge gefasst worden. Er gehörte damit zu einer Reihe von Spezialgremien, welche die politisch-ökonomischen und humanitären Folgen der Teilung Deutschlands beobachten und bewerten sollte, um die Politik der Bundesregierung in Fragen der Wiedervereinigung zu überprüfen und zu beraten. In dem von Biefang dokumentierten Zeitraum der ersten Wahlperiode wurde auf 93 Sitzungen unter anderem Gesetzgebungsentwürfe zur Flüchtlingsfrage, Möglichkeiten zur Einflussnahme auf die DDR, Maßnahmen gegen die "Westarbeit" der SED oder aktuelle Themen der Deutschlandpolitik beraten. All dies ist sauber ediert und durch ausführliche Fußnoten zu Details, Personen und politischen Zusammenhängen ergänzt sowie mit Hinweisen auf weiterführende Archivalien und Literatur versehen. Ein Personen- und Sachverzeichnis hilft, Einzelthemen und Querverbindungen leicht aufzufinden.

Zusätzlich gibt der Bearbeiter auf den fast 150 Seiten der Einleitung einen detaillierten Überblick über die personelle Zusammensetzung des Ausschusses, seine Mitgliederzahl und die Arbeitsweisen sowie über die Schwerpunkte der Ausschussarbeit. Besonders nützlich für die Arbeit mit den Protokollen ist vor allem der Teil mit den Kurzbiographien der Ausschussmitglieder und der sonstigen Teilnehmer.

Biefang ist mit seiner Edition dem Leitthema "Abgrenzung und Verflechtung" der beiden Deutschlands nach 1949 verpflichtet, das die Forschung in den letzten Jahren deutlich in den Mittelpunkt gerückt hat. In der Tat waren die ersten vier Jahre des Ausschusses einerseits mit die interessanteste und bewegteste Phase der Deutschlandpolitik. In die Zeit fielen die bis heute höchst unterschiedlich interpretierten "Noten" der DDR und der UdSSR zur Wiedervereinigung ("Grotewohl-Brief", "Stalin-Noten") und die nicht weniger umstrittenen Entwicklungen nach dem Tod Stalins im März 1953. Hierüber ist in der Forschung erneut die Frage aufgeworfen worden, ob die "kollektive Führung" in Moskau bereit war, zugunsten einer Neutralisierung der Wiedervereinigung zuzustimmen; mithin also die DDR, "das ungeliebte Kind", aufzugeben. Und nicht zuletzt fand der Aufstand vom 17. Juni 1953 in dem Zeitraum der Dokumentation statt.

Die Durchsicht der Protokolle enttäuscht andererseits die Hoffnung, manche neuen Details zu entdecken. Der "Grotewohl-Brief" im November 1950 wurde zwar ausführlich diskutiert und Adenauer selbst trug persönlich den Entwurf der bekannten offiziellen Erwiderung vor, mit dem der Ausschuss auch "im wesentlichen einverstanden" war. Die Diskussion jedoch, die möglicherweise Rückschlüsse auf Einwände und unterschiedliche Standpunkte hätte zeigen können, wurde wegen ihrer Vertraulichkeit protokollarisch nicht festgehalten. Ähnlich verhält sich dies mit den Debatten um die sowjetische Deutschlandinitiative zwischen dem Tod Stalins und dem 17. Juni sowie danach. So bleiben die zusätzlichen Informationen gering. Die Protokolle der Sitzungen nach dem Aufstand beschränken sich auf Details, so etwa auf die Diskussion um die vom Ausschussvorsitzenden Wehner vorgeschlagene Namensgebung "Tag der deutschen Einheit". Die in diesem Zusammenhang wichtigeren Protokolle finden sich in den ebenfalls 1998 veröffentlichten Akten des Auswärtigen Ausschusses. Deutlicher haben dagegen die Kontroversen zu den "Stalin-Noten" von 1952, die quer durch die Parteien und Fraktionen gingen, einen Niederschlag in den Protokollen des Gesamtdeutschen Ausschusses gefunden, wobei allerdings auch hier neue Erkenntnisse nur im Detail zu finden sind.

Interessanter und ergiebiger sind die Protokolle in anderen Fragen der Wiedervereinigung, so zum Beispiel in den Debatten über die Zukunft der Oder-Neiße-Gebiete und des Saargebietes und die damit zusammenhängende Grenzfragen nach dem Abschluss des Deutschlandvertrages und dem Beitritt zur EVG. Sie sind in einem ausführlichen Protokoll vom 29.10.1952 nachzulesen und enthalten unter anderem eine eingehende Diskussion darüber, ob die Ostgebiete bereits zu diesem Zeitpunkt (1952) auch juristisch endgültig verloren seien.

Eine wichtige Dokumentation sind die Protokolle des Gesamtdeutschen Ausschusses aber vor allem zu den Punkten, in denen es um die direkte Einflussnahme auf die DDR ging. Hier geben die Dokumente die offizielle westdeutsche Wahrnehmung der Sowjetisierung wieder. Darüber hinaus gehend bieten sie einen Einblick in Detaildiskussionen, an welchen Stellen und mit welchen Mitteln zur Schwächung der DDR angesetzt werden sollte. Gerade im Gesamtdeutschen Ausschuss war dabei wenig über jene radikalen Gruppen bekannt, die sich einer aktiven "Befreiungspolitik" selbst mit Sprengstoffanschlägen verpflichtet fühlten (z. B. die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit). Das belegt noch einmal, wie rasch die radikale Befreiungspolitik sich von den offiziellen Vorgaben entfernte und aus der offiziellen Kontrolle entwich. Ihre Leiter, wie Ernst Tillich, weigerten sich auch strikt, dem Ausschuss Rechenschaft abzulegen,

Zusammengefasst: Eine gelungene Edition, die in ihren Dokumenten manches weniger bekannte Detail zu Tage fördert, für vieles aber auch keine Antwort bereit hält oder nur in Ergänzung mit den Protokollen anderer Ausschüsse verwendet werden kann. In jedem Fall sind die Protokolle eine Fundgrube für die Perzeptionsgeschichte des geteilten Deutschland.

Bernd Stöver, Potsdam



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