Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Hartmut Berghoff/Robert von Friedeburg (Hrsg.), Change and Inertia. Britain under the Impact of the Great War, Verlag Philo, Bodenheim b. Mainz, 1998, 203 S., kart., 58 DM.

Der Erste Weltkrieg oder, wie er in Großbritannien allgemein genannt wird, "The Great War" ist ein Ereignis, das auch nach vielen Jahrzehnten intensiver Forschung einen ungewöhnlichen "Reiz" auf Historiker ausübt. Im Mittelpunkt dieses von zwei engagierten Mitgliedern des Arbeitskreises Deutsche England-Forschung herausgegebenen Sammelbandes stehen jedoch nicht "klassische" Themen der militärischen Kriegführung. Vielmehr versuchen die insgesamt acht Beiträge (von namhaften englischen Historikern wie Jay Winter und John Turner oder jüngeren deutschen Englandforscher/innen wie Antje Hagen, Marion Hausmann bzw. Andreas Helle) an ausgewählten Beispielen eine Antwort auf eine vergleichsweise "alte" Frage zu geben: Stellt der Krieg eine eindeutige Zäsur zwischen dem viktorianischen und modernen England dar oder hat er nur bereits länger sichtbare Tendenzen des Wandels in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik verstärkt?

Die Kräfte des "Wandels" und der "Beharrung" - wie im Titel formuliert - auszuloten und in ihrer Wirkung zu beschreiben, ist keineswegs einfach, wie die Beiträge zeigen. Englands "economic decline" nach 1918 ist aufgrund der wirtschaftlichen Folgen des Krieges, allen voran des Verlusts der beherrschenden Stellung im Bereich von Handel und Finanzen, unbestreitbar. Folgt man jedoch William Garside, dann beschleunigte der Krieg diesbezüglich nur einen bereits vor 1914 erkennbaren Trend. Die im Rahmen der Kriegswirtschaft erkennbar gewordenen Möglichkeiten grundlegender Veränderungen, wurden aber, so Garside, weder von der Wirtschaft noch von den staatlichen Behörden effektiv und dauerhaft genutzt. Die Technik der Massenproduktion oder auch korporative Ansätze zur Lösung struktureller Probleme der Marktwirtschaft sind in dieser Hinsicht nur zwei Beispiele. In den 1920er und 1930er Jahren sollte die englische Wirtschaft für diese verpaßte Chance teuer bezahlen.

Zu einem ähnlichen Befund kommt die von Heide-Irene Schmidt detailliert nachgezeichneten Debatte über den ökonomischen Wiederaufbau und die interalliierte wirtschaftliche Kooperation. Mangelnde Kompromissfähigkeit, gegenseitiges Mißtrauen und nationale Egoismen sowohl zwischen den innerenglischen Interessengruppen als auch zwischen den Alliierten verhinderten einen dauerhaften Konsens in der national und international wichtigen Frage des ökonomischen Wiederaufbaus. Im Hinblick auf die gesamteuropäischen Folgen warnt die Autorin aber zu Recht vor ungerechtfertigten Schuldzuweisungen: "As we have seen after World War II, it takes a benevolent hegemonic power with unchallenged economic and military potential to make a 'peace effort on a war scale'" (S. 66).

Folgt man Jay Winter, Aribert Reimann und Marion Hausmann, dann hat es im Bereich von Gesellschaft und Kultur, anders als oft behauptet, ebenfalls keine grundlegenden Änderungen gegeben. Der Krieg sei überraschender Weise eher eine konservative als eine revolutionäre Kraft gewesen. So kann Marion Hausmann beispielsweise zeigen, dass die symbolisch bedeutsame Gewährung des Frauenwahlrechtes an der Situation der Frauen in der Gesellschaft nichts geändert hat: die Zahl aktiver Frauen in der Politik war weiterhin gering, und auch in der Industrie war die Beschäftigung weiblicher Arbeitskräfte tendenziell rückläufig.

Selbst auf dem Feld der Politik ist das Muster ähnlich. Gravierenden Änderungen gegenüber der Zeit vor 1914 wie der gewaltsam erkämpften irischen Unabhängigkeit oder dem Aufstieg der Labour Party bei gleichzeitiger Zersplitterung des Liberalismus stehen deutliche Beharrungskräfte gegenüber. Auch hier sind Änderungen oft nur das Ergebnis längerfristiger, durch den Krieg zweifellos beschleunigter Trends wie der wachsenden Politisierung und Demokratisierung seit den 1880er Jahren. Allein die Haltung gegenüber der organisierten Arbeiterbewegung ist eine Ausnahme, denn, argumentiert John Turner, "the anti-labour activities of the British State, as distinct from those of any political party, became an unremarked part of the political system" (S. 166).

Insgesamt betrachtet sind diese Beiträge, auch wenn sie nur einzelne Aspekte behandeln, ein Beweis dafür, wie wichtig und richtig der Versuch ist, auf alte Fragen neue Antworten zu geben, um die direkten und indirekten Auswirkungen des Ersten Weltkrieges auf nationaler und internationaler, politischer und wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Ebene besser beurteilen zu können.

Michael Epkenhans, Bardowick



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