Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Harry Hendrick, Child Welfare. England 1872-1989, Routledge, London 1994, 354 S., geb., 13,99 £.

Das vorliegende Buch bietet einen zusammenfassenden Überblick über die Geschichte der auf Kinder gerichteten sozialpolitischen Maßnahmen in England seit dem späten 19. Jahrhundert. Das Schwergewicht liegt auf der deskriptiven Darstellung der verschiedenen Bereiche, in denen sich der Staat (und freie Wohlfahrtsverbände) um die körperliche und psychische Entwicklung und Sozialisation von Kindern bemüht haben. Dennoch verzichtet Hendrick nicht auf einen Interpretationsrahmen, ohne den modernisierungs- und kapitalismuskritischen Bewertungen etwa eines Jacques Donzelot zu folgen. Hendrick entwickelt in einem einleitenden Kapitel drei Dimensionen als 'Kompass' für die Analyse der historischen Gesamtentwicklung. Zwei bezeichnen Dualismen, nämlich den von Körper und Geist (bodies/minds) sowie von Opfer und Bedrohung (victims/threats), eine dritte fragt nach der Funktion von Kindern als gesellschaftliche Investitionen (Investments), womit die zentrale Frage nach den Motivationen von Sozialpolitik gestellt wird. Die Bedeutung dieser Frage wird schnell am Beispiel des Sozialimperialismus klar, als die Sorge um die (militärische) Konkurrenzfähigkeit der englischen Nation die Aufmerksamkeit auf den Gesundheitszustand der Kinder lenkte und entsprechende sozialmedizinische Programme förderte. Eng damit verbunden ist Hendricks Beobachtung, dass die Wahrnehmung benachteiligter oder vernachlässigter Kinder als Opfer von gesellschaftlichen Missständen sehr oft von der Wahrnehmung dieser Kinder als einer Bedrohung für die Gesellschaft, zum Beispiel in Form von nachfolgender Jugendkriminalität, überlagert wurde. Den Dualismus von Körper und Geist sieht Hendrick insbesondere seit der Entwicklung der Kinderpsychologie am Ende des 19. Jahrhunderts als konstitutiv für alle Konzepte von Kindheit an.

Dieser Interpretationsrahmen macht bereits deutlich, wo - mit einigen Ausnahmen - die Schwerpunkte von Hendricks Darstellung liegen: Nicht auf der Praxis der sozialpolitischen Maßnahmen, ihren Wirkungen oder gar auf den Wahrnehmungen der Betroffenen, sondern auf den Diskursen, Reformkonzepten und ihrer Umsetzung in gesetzlich formulierte Sozialpolitik. Einzelne Themenfelder betreffen die sozialpolitischen Maßnahmen gegen Kindesmissbrauch von den Anfängen des englischen Kinderschutzbundes NSPCC bis zur aktuellen Diskussion über sexuellen Missbrauch, die Maßnahmen gegen Säuglingssterblichkeit, die Behandlung der im System der Armenhilfe lebenden Kinder, die schulmedizinischen Dienste, die Behandlung behinderter und "schwachsinniger" Kinder und die Entwicklung der Heil- und Sozialpädagogik. Die historischen Epochen, von Hendrick in die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg, in die Zwischenkriegszeit und den Zweiten Weltkrieg sowie die Nachkriegszeit bis 1989 unterteilt, werden dabei ungefähr gleichrangig behandelt.

Unterschwellig spielt das Thema Jugenddelinquenz, das stets in einem Grenzbereich zwischen Wohlfahrts- und Strafrecht angesiedelt ist und daher nicht systematisch erfasst wird, in der Darstellung des Diskurses über Sozialpolitik eine wichtige Rolle und rückt im Zusammenhang mit der Neuordnung der Erziehungsanstalten in den 1930er Jahren stärker ins Blickfeld. Die Betonung dieser stationären Behandlungsformen der Jugenddelinquenz erscheint jedoch als selektiv und geht zulasten der zahlenmäßig bedeutenderen ambulanten Bewährungsstrafe, die viel mehr als die Anstaltserziehung die wohlfahrtsstaatliche Orientierung der Jugendkriminalpolitik repräsentierte.

Angesichts des behandelten Zeitraums von mehr als hundert Jahren und eines auf ca. 280 Textseiten beschränkten Platzes erscheint eine gewisse Selektivität der Darstellung und die Konzentration auf die grundlegenden Entwicklungslinien als gerechtfertigt. Anhand eines ausführlichen Literaturverzeichnisses, das auch die wichtigsten Parlaments- und Regierungsberichte umfasst, besteht die Möglichkeit zur weitergehenden Beschäftigung mit dem Thema. Hendricks Darstellung kann als eine gründliche und zuverlässige Einführung in diesen wichtigen Aspekt der englischen Sozialpolitik gelten.

Dietrich Oberwittler, Freiburg



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