Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Abdolreza Scheybani, Handwerk und Kleinhandel in der Bundesrepublik Deutschland. Sozialökonomischer Wandel und Mittelstandspolitik 1949-1961, R. Oldenbourg Verlag, München 1996, 553 S., brosch., 128 DM.

Die vorliegende Arbeit, die als Dissertation an der Universität München entstand, untersucht unter dem Paradigma des „Mittelstandes" die Entwicklung von Handwerk und Einzelhandel in den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland. Nach der Arbeit von Ursula Beyenburg-Wiedenfeld (Wettbewerbstheorie, Wirtschaftspolitik und Mittelstandsförderung 1948-1963, Bonn 1992) liegt damit ein zweiter neuer Beitrag zur Geschichte des „Mittelstandes" in der alten Bundesrepublik vor. Der Verfasser untersucht in drei Kapiteln den wirtschaftlichen Strukturwandel im Handwerk und im Einzelhandel, die soziale Lage der Selbständigen in diesen Sektoren und die Mittelstandspolitik. In einem Schlusskapitel werden die Ergebnisse zusammengefasst.

Der Mittelstandsbegriff ist in Deutschland seit jeher umstritten. Neben der quantitativen Definition als Kleinbetrieb, gemessen am Umsatz und der Beschäftigungszahl, wird der „mittelständische" Betrieb auch durch qualitative Merkmale wie persönliche Verantwortung, Verbindung von Betrieb und Familie, geringe Arbeitsteilung charakterisiert, die ihn vom kapitalistischen Großbetrieb unterscheiden (S. 16-17). Handwerk und Einzelhandel weisen traditionell einen hohen Anteil mittelständischer Betriebe auf, auch wenn vor allem im Einzelhandel Kaufhäuser, Filialuntemehmen und Versandhäuser an Bedeutung gewannen.

Das Verdienst der Arbeit liegt darin, dass sie die Aufmerksamkeit auf die kleinen Betriebe lenkt, die wesentlich zur Entwicklung der westdeutschen Wirtschaft beigetragen haben, in der öffentlichen Beachtung und in der historischen Forschung aber im Allgemeinen hinter den großen Unternehmungen der Industrie und des Bankwesens zurückstehen. Durch Konzentration, Rationalisierung und Anpassung an die sich wandelnden Märkte konnten die Kleinbetriebe im Handwerk und auch im Einzelhandel am wirtschaftlichen Wachstum teilnehmen. Die Kleinbetriebe im Einzelhandel verloren zwar Marktanteile an die großbetriebliche Konkurrenz, aber ihre massive Verdrängung setzte erst in den Sechzigerjahren ein. Im Einkommen, Vermögen und Sozialprestige behaupteten die Selbständigen im Handwerk und im Einzelhandel im Durchschnitt einen Vorsprung vor Angestellten und Arbeitern.

Die mittelständischen Verbände wie der „Zentralverband des Deutschen Handwerks" und die „Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels" wandelten sich in den Fünfzigerjahren von traditionell-ständisch orientierten Vereinigungen zu modernen Interessenorganisationen. Programmatisch nahm die „Mittelstandspolitik" in der westdeutschen Wirtschafts- und Sozialpolitik einen prominenten Platz ein. In der Praxis war die Politik aber weniger eindeutig. Die Wirtschafts- und Sozialpolitik begünstigte oft die Großbetriebe gegenüber den Kleinbetrieben, und die gezielten Mittelstandsprogramme waren im Umfang begrenzt, so dass sie keinen entscheidenden Einfluss auf die Gesamtentwicklung der Kleinbetriebe im Handwerk und im Einzelhandel hatten. Der Verfasser widerlegt mit seiner sorgfältigen Untersuchung manche Vorurteile über die „Mittelstandspolitik".

Die Stärke der Arbeit liegt eher in der Ereignisgeschichte als in der Strukturgeschichte. Sie bietet viele Informationen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte von Handwerk und Einzelhandel in den Fünfzigerjahren und regt zu weiteren Forschungen an.

Gerd Hardach, Marburg



© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2000