Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Stefan Riesenfellner/Ingrid Spörk (Hrsg.), Minna Kautsky, Beiträge zum literarischen Werk, Verlag für Gesellschaftskritik, Wien 1996, 349 S., brosch., 45 DM.

Zum ersten Mal wird in diesem Sammelband das literarische Werk der österreichischen Schriftstellerin und Sozialistin Minna Kautsky kenntnisreich und detailliert vorgestellt. Die elf Studien der sieben Autorinnen und Autoren Ingrid Cella, Eva Kok-ErtI, Werner Michler, Stefan Riesenfellner, Ingrid Spörk, Christine Sunk und Harald Troch zeichnen sich alle durch ein solides Quellenfundament aus und versuchen, die Mutter von Karl Kautsky literaturgeschichtlich, gesellschaftspolitisch und soziologisch einzuordnen.

Dem informativen Überblicksartikel von Stefan Riesenfellner zur Biographie, zum Gesamtschaffen und zum Wirken von Minna Kautsky folgen Beiträge über einzelne Werke, über die unterschiedlichen Entwicklungsetappen und über die charakteristischen Tendenzen im Schaffen von Minna Kautsky. Der Leser erhält vielseitige Informationen über den historischen und literarischen Stellenwert ihrer Romane, Dramen und Feuilletons, er wird über Zusammenhänge mit Anschauungen und Vorgängen in der österreichischen und deutschen Arbeiterbewegung unterrichtet und er erfährt manches über Kautskys Verhältnis zum Sozialdarwinismus, Marxismus und Feminismus. In mehreren Beiträgen wird der große Einfluss ihres Sohnes Karl hervorgehoben. Die mit vielen Zitaten versehenen Inhaltsangaben zu den Werken und die Untersuchungen zur Verbreitung der Literatur von Minna Kautsky verdeutlichen deren Quellenwert sowohl für das Ausmaß und die Grenzen ihrer sozialkritischen Gesellschaftsschau als auch für den Einblick in die Gefühls- und Gedankenwelt einer engagierten Sozialistin, die das Leben von Frauen der verschiedenen Gesellschaftsklassen und schichten eindringlich zu schildern versuchte. Da sie jedoch einer von bürgerlichen und proletarischen Sichtweisen gespeisten Sozialutopie vom "neuen Menschen" anhing, habe sie einerseits zur Aufklärung, andererseits aber auch zur Verklärung beigetragen.

Die Studien der beiden Herausgeber sind besonders reich an Angaben zu den zeit- und familiengeschichtlichen Inspirationsquellen und zu den Publikationspraktiken. In den Blickpunkt gerückt werden Fragen nach dem Ursprung ihrer Themen, nach den Ursachen der lediglich auf die Lebenszeit der Autorin begrenzten Popularität, nach der Funktion des von ihr bevorzugten Unterhaltungsromans, nach ihrem ästhetischen Konzept und nach der von den sozialdemokratischen Parteien ihrer Zeit wie von ihr selbst mit geprägten Vorstellung über den sozialen Standpunkt und die Erwartungshaltung der potenziellen Leser.

Bereichernd wirken Vergleiche, die einige Autoren und Autorinnen mit Bertha von Suttner, Maria von Ebner-Eschenbach, mit Georg Weerth und Anna Seghers oder mit Emile Zola, Jack London, Martin Andersen Nexö und Maxim Gorki anstellen. In vielerlei Hinsicht wird das widersprüchliche Beziehungsgeflecht von gesellschaftskritischem Sozialroman und trivialer Form- und Sprachgestaltung angesprochen, auch, dass Minna Kautsky teilweise in eine verkitschte Idealisierung von Menschentypen verfiel, die die Wirkung ihrer Arbeiten beeinträchtigte. Minna Kautskys Zeit- und Sittenbild sei eben mit allen Vorzügen, Widersprüchen, Illusionen und Ungereimtheiten sozialdemokratischer Ideologie und Weltsicht behaftet gewesen. Nicht selten habe sie sich obendrein im Zwiespalt zwischen proletarischen und bürgerlichen Kulturansprüchen befunden.

Fraglich erscheint mir jedoch die überbetonte Annahme von der relativ einseitigen Beeinflussung ihrer Auffassungen durch die Ansichten des Sohnes Karl. Gingen nicht auch starke Einflüsse von ihr auf Karl Kautsky aus, z. B. auf dessen Verhältnis zu Frauen und zur Frauenemanzipation? Der Bremer Historiker Till Schelz-Brandenburg hat doch z. B. in dem umfangreichen Kapitel "Die Frauen und die Sozialisten" seiner Dissertationsschrift über Eduard Bernstein und Karl Kautsky (Köln 1992) erstmalig die dominante Rolle der Mutter für das Verhältnis des Sohnes zu seinen Ehefrauen und Geliebten nachgewiesen. Überhaupt wurden wohl nicht alle neueren Forschungsergebnisse über Karl Kautsky und über die Geschichte der Arbeiterbewegung genügend berücksichtigt. Eine intensivere Erschließung des umfangreichen Briefwechsels zwischen Karl und Minna Kautsky dürfte ebenfalls noch einige neue Gesichtspunkte hervorbringen.

Interessant sind die Verbindungslinien, die in den Studien des vorliegenden Bandes von den ersten Erzählungen nach 1870 zu den Romanen der 1890er Jahre gezogen werden. Auch die Hinweise auf autobiographische Züge und persönliche Erfahrungen aus dem Kampf um die Selbstverwirklichung als Frau in Kunst und Politik, im Beruf und in der Familie verdienen Beachtung. Da jeder Autor und jede Autorin das Recht auf eine eigenwillige Komposition seines Beitrages wahrgenommen hat und untereinander wohl kaum Abstimmungen vorgenommen worden sind, gibt es Wiederholungen bei den biographischen Skizzen, bei Werkzitaten und bei Bezügen auf Einschätzungen in der Literatur, z. B. Friedrich Engels' und Franz Mehrings Kritik, Adelheid Popps Nekrolog oder Walter Benjamins Äußerungen über das Verhältnis von Inhalt und Form, die z. T. hätten vermieden werden können.Die Einschätzungen des literaturgeschichtlichen und gesellschaftskritischen Standortes der literarischen Arbeiten von Minna Kautsky bewegen sich fast durchweg in der Richtung, die Ingrid Cella in ihrem Beitrag "Die Genossen nannten sie die 'rote Marlitt'" anzeigt. Das Werk sei weder als bloße Trivialschriftstellerei abzuqualifizieren noch als gelungene Darstellung proletarischen Lebens und Denkens aufzuwerten. "Im Kontext der Geschichte des sozialen Romans stellt es einen legitimen Versuch literarischer Bewältigung sozialer Probleme im Gefolge von Industrialisierung und (österreichischem) Frühkapitalismus dar." (S. 113)

Insgesamt gibt dieser Sammelband viele Anregungen, in erster Linie natürlich dafür, das große Forschungsdefizit auf dem Gebiet des sozialen Romans zu zu beheben. Eine vielseitigere Untersuchung der angedeuteten Gründe für die Missachtung Minna Kautskys in der Literaturgeschichte wäre bestimmt lohnenswert. Der mehrfach angesprochene und zweifellos widersprüchliche Beitrag Minna Kautskys zur Frauenemanzipationsproblematik müsste weiterhin kritisch erörtert werden. Über die Rückschlüsse aus Minna Kautskys Arbeiten auf das soziale Milieu, das Ideengut und die Zielvorstellungen in der Arbeiterbewegung sollte weitergehend und differenzierter nachgedacht werden. Die Karl-Kautsky-Forschung könnte vermutlich auch durch eine kritische Auseinandersetzung mit den dargebotenen literaturwissenschaftlichen und kulturgeschichtlichen Ergebnissen über das Werk seiner Mutter gewinnen. Erwägenswert wäre vielleicht sogar, ob über ‘Sozialistendynastien’ wie die Kautskys und Liebknechts nicht auch einmal Familiengeschichten unter korrekter Berücksichtigung der vielfältigen geistigen und kulturellen Einflüsse ihrer Zeit geschrieben werden könnten.

Annelies Laschitza, Berlin



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