Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Uwe Puschner/Walter Schmitz/Justus H. Ullbricht (Hrsg.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung" 1871-1918, Verlag K. G. Saur, München 1996, 978 S., geb., 320 DM.

Kaum eine Bewegung war - so einleitend die Herausgeber - so komplex und weitgefächert, so zersplittert und zugleich so vielfältig wie die völkische. Ausschlaggebend ist „der Charakter einer Sammelbewegung, in der sich unterschiedlichst organisierte Gruppen, vielfältige Strömungen, Ideen und Anliegen nebeneinander - einander bekämpfend, sich zusammenschließend, sich abspaltend - finden" (S. XIIIV). Gemeinsam ist ihnen das Verständnis von der deutschen Staatsgemeinschaft als „Blut- und Geschichtsgemeinschaft"; jenes grenzüberschreitende Gedankengut also, das die Nationalsozialisten sich bei ihrer Vorstellung eines Großdeutschen Reiches zu eigen machten. Auch der Antisemitismus wie der Antislavismus einten die zersplitterten völkischen Gruppen, die ansonsten, jeweils unterschiedlich, „germanisierende" Tendenzen verfochten, etwa in den Bereichen Religion, Lebenswelt und Kultur.

Das Handbuch vermittelt in fünf Abteilungen mit insgesamt 46 Einzelbeiträgen einen breiten Überblick über diese facettenreiche völkische Bewegung. Nach einem einführenden Abschnitt zur politischen Kultur und zur völkischen Ideologie werden im zweiten Teil vier der völkischen Vordenker und Agitatoren porträtiert. Ina Ulrike Paul stellt z. B. den „Deutschdenker" Paul-Anton de Lagarde vor, an dessen Persönlichkeit sich die wichtigsten Merkmale völkischen Denkens festmachen lassen: extremer Nationalismus, Antisemitismus und der Entwurf einer „nationalen Religion", der der studierte Orientalist, Philologe und Theologe besonders verhaftet war. Während Lagarde zu Lebzeiten mit seiner beißenden Kritik am neugegründeten Kaiserreich vorwiegend in Fachkreisen - in der Philosophie wie auch teilweise in der Politik, beispielsweise im Alldeutschen Verband - rezipiert wurde, erfuhren seine Schriften erst etliche Jahre nach seinem Tod in der Weimarer Zeit weitere Verbreitung und bildeten schließlich eine willkommene Vorlage für die völkische Ideologie des Nationalsozialismus. Gleichsam in Ergänzung zu Lagardes Nationalismus steht die Kultur- und Großstadtkritik Friedrich Lienhards (dargestellt von Hildegard Châtellier). Die durchdachte Anlage des Bandes hat diese einleitenden Beiträge durchweg eher perzeptiv-biographisch konzipiert, wohingegen die Inhalte des völkischen Denkens in den nachfolgenden Teilen thematisiert werden, wobei Wiederholungen weitgehend vermieden werden.

Ein erster Themenblock widmet sich der germanisch-deutschen Religion (R. Lächele, Th. Reinecke, S. von Schnurbein), der vor allem der Versuch zugrunde liegt, das Christentum von „artfremden", d. h. jüdischen Elementen zu reinigen bzw. die das Christentum als insgesamt „zu jüdisch" völlig ablehnt. Grundlegend für das völkische Denken sind der Rassegedanke und die Betonung des germanischen Ursprungs. So wird die Anthropologie zur willkommenen Partnerin völkischen Gedankengutes, das Ausmessen von Schädeln zum Beweis der Richtigkeit von Rassenlehre, von Sozialdarwinismus, von Eugenik, von Antisemitismus. Weitere Beiträge widmen sich den verschiedensten Vereinen und Verbänden, die zumindest teilweise auf völkisches Gedankengut zurückgreifen, wie all jene deutschnationalen Vereine, die vor allem in der wilhelminischen Zeit ihre Blüte erlebten: der Alldeutsche Verband, der Wehrverein und andere kleinere völkische Zusammenschlüsse wie der Deutschbund. Karin Bruns untersucht in ihrem Beitrag über völkische Frauenvereine die eigenartige Ideologie zur Rolle der Frau zwischen „Gebärmaschinen" und traditioneller Rollenverteilung einerseits und der Propagierung der „wehrhaften Heldin" andererseits, die sich in reinen Mädchenbünden organisiert. Der nahtlose Übergang dieser Bewegungen in die nationalsozialistische Ideologie und die Organisationsform des BDM war hier vorprogrammiert.

Der vierte Teil schildert die unterschiedlichen und disparaten völkischen sozialen Bewegungen, von Siedlungsvorstellungen über Nacktkultur, von der Eugenik bis zur Tierschutzbewegung und vertieft nochmals die Hauptstränge völkischen Denkens: den Antisemitismus, Antislavismus, die germanische Kultur. Die völkische Kapitalismuskritik wird in einem Beitrag von Heike Hoffmann am „Warenhaus" festgemacht. Auch hier liefert der Antisemitismus die herausragenden Argumente: Juden seien Erfinder wie alleinige Nutznießer der kapitalistischen Wirtschaftsform und „erdrosseln" den vormals gesunden deutschen Mittelstand. Das Warenhaus wird zum semitischen „Großbazar". Ein zweifellos zentraler Beitrag von Julia Zernack beschäftigt sich mit der Geschichte der Verherrlichung der Nordvölker. Diese Mentalität erhielt unter anderem durch die Nordlandfahrten Wilhelms II. weiteren Aufschwung und schlug sich in Literatur, bildender Kunst, der Anthropologie, der Historiographie und vor allem in der völkischen Mystik und Religionslehre nieder.

Der fünfte und letzte Abschnitt des fast tausendseitigen Handbuches vertieft die kulturelle „Moderne" des völkischen Denkens. Hildegard Châtellier ordnet die Wagner-Begeisterung des ausgehenden Kaiserreichs mit dem Hang zu „mythologischen Musikdramen" in das völkische Denken ein. So findet auch Wagners „national und rassistisch gefärbte Weltordnung" durch seine populären Opern und durch seine Jünger weitere Verbreitung. In diesem Teil des Handbuches steht aber vor allem die völkische Literatur im Vordergrund: Felix Dahn (Kurt Frech), Karl May (Christiane Reuter-Boysen), sowie der George-Kreis (Walter Schmitz und Uwe Schneider). Stefan Georges wirre Vorstellungen von der Erneuerung der deutschen Gesellschaft erfuhren im George-Kreis der Münchner Bohème weitere Vertiefung. Sein „geheimes Deutschland" meinte die geheime Gegenöffentlichkeit; trotz Georges Ablehnung der „pöbelhaften Hitler-Bewegung" galt er als ihr Wegbereiter. Die Ambivalenz dieser Einstellung manifestiert sich vielleicht in der Person und im Denken des Hitler-Attentäters v. Stauffenberg, eines glühenden Anhängers Georges. Aus der völkisch beeinflussten Kulturbewegung nicht herauszudenken ist das völkische Theater, exemplarisch von Uwe Puschner am „Harzer Bergtheater", einer deutschen „Reformbühne" aufgezeigt. Diese Freilichtbühne wurde als neuheidnische Kultstätte im mythenumwobenen Harz errichtet und sollte die Rolle einer „Musterweihebühne" und Vorbild einer nationalen Renaissance einnehmen. Der Band wird durch zwei wichtige Beiträge zur völkischen Tendenz in der Geschichtswissenschaft (Wolfgang Weber) und in der Philologie (Andreas Schmid) abgeschlossen.

Das Handbuch wird durch Kurzbiographien der wichtigsten völkischen Protagonisten abgerundet. Ein Personenregister und ein Register der Institutionen ergänzen den Band. Jedem Beitrag ist ein ausführlicher, meist zweiseitiger Literatur- und Quellendiskurs angehängt. Gerade die zuletzt genannten Informationen machen das Handbuch auch für „völkische Anfänger", etwa im universitären Seminarbetrieb, überaus wertvoll. Als Nachschlagewerk und zur übergreifenden Information zu diesem weitgefächerten Themenkomplex ist das Handbuch nicht nur für die Beschäftigung mit dem völkischen Gedankengut im Kaiserreich und in der Weimarer Republik unentbehrlich, sondern auch für alle an den Grundlagen der Ideologie des Nationalsozialismus interessierten Forscher. Der stolze Preis sollte die Weiterverbreitung des Werkes nicht behindern.

Merith Niehuss, München



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