Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

John F. Hutchinson, Champions of Charity. War and the Rise of the Red Cross, Westview Press, Oxford 1996, 448 S., geb., 25,95 £.

Mit diesem aus souveräner Distanz geschriebenen Werk liegt eine kritische Darstellung der Geschichte des Roten Kreuzes von seinen Anfängen bis zu seiner Neuorganisation nach dem Ersten Weltkrieg vor. Ihr Herzstück stellt eine detailreich dokumentierte, dichte Schilderung einer Degeneration dar: der Entwicklung einer nicht hoch genug zu preisenden, privaten humanitären Initiative (zuerst Henry Dunants, dann, nach dessen Ausbootung, eines Kreises Genfer Philanthropen um Gustave Moynier und Louis Appia) mit dem Ziel einer organisierten Versorgung von Verwundeten auf den Schlachtfeldern Europas zu einer faktischen Unterstützung bellizistischer Politik im Zeitalter des Nationalismus und Imperialismus. Dieser Prozess setzt um 1880 ein und reicht bis zum Vorabend des Ersten Weltkrieges. Vorausgegangen waren eindringliche, aber ungehört verhallte Warnungen Florence Nightingales vor einer Instrumentalisierung der ihrem Anspruch nach politisch neutralen Hilfstätigkeit des Roten Kreuzes durch die Regierungen, später ahnungsvolle Ausblicke Rudolf Virchows auf langdauernde, blutige Kriege der Zukunft, welche die Möglichkeiten des Roten Kreuzes leicht überfordern würden. Nachdem in den Schlachten des deutsch-dänischen Krieges von 1864 mit den Hilfsdiensten der Johanniter und Malteser ermutigende Erfahrungen gesammelt und im preußisch-österreichischen Krieg von 1866 alsbald verwertet worden waren, und nachdem immer mehr Staaten ihren Beitritt zur Genfer Konvention vollzogen hatten, stellte der deutsch-französische Krieg von 1870/71 auf beiden Seiten eine Bewährungsprobe für die nationalen Organisationen des Roten Kreuzes dar. Preußen erbrachte den Nachweis überlegener Effizienz durch fortschreitende Professionalisierung und weitgehende Unterordnung unter militärische Bedürfnisse sowie den hohen Stand einer Militärmedizin, die sich nicht mit der bloßen Rettung der Verwundeten vom Tode begnügte, sondern ihre völlige Wiederherstellung zum Zweck ihrer erneuten Kriegsverwendbarkeit intendierte. Das preußische Beispiel fand vielfach Nachahmung in den Armeen anderer Staaten.

Mit der Steigerung der Effizienz der einzelnen nationalen Gesellschaften des Roten Kreuzes trat die ursprünglich ganz im Geist philanthropischer Internationalität angelegte Idee einer Humanisierung des Krieges völlig zurück. Sie erfuhr stattdessen eine Militarisierung, die ihren Höhepunkt im Ersten Weltkrieg erreichen sollte. Es vollzog sich, mit den Worten Hutchinsons, eine "Militarization of Charity". Einen neuen Schub erhielt diese Entwicklung durch die den preußischen Innovationen nicht unähnlichen Anstrengungen Japans nach dem Sieg über Russland im Krieg von 1904/05. Hutchinsons Kommentar angesichts des Schweigens des Genfer Internationalen Komitees des Roten Kreuzes: "Had Moynier lived to see it, he would have realized that the delegates of humanity had been replaced by the organizers of war."

Bereits auf der Genfer Konferenz des Internationalen Komitees von 1884 war die Verfälschung der ursprünglichen Idee mit der Rede des französischen Delegierten Jules Lacointa auf die Spitze getrieben worden, indem er in einem Atemzug den Lobpreis der Waffen und der Armeen, des Heldentums und der Todesverachtung der Soldaten im nationalen Krieg und der humanitären Mission des Roten Kreuzes anzustimmen vermochte. Seither zu staatlichen Hilfsorganisationen der Kriegführung geworden - das Personal war inzwischen uniformiert - hielten die nationalen Gesellschaften des Roten Kreuzes betonte Distanz zu den pazifistischen und auf Abrüstung gerichteten Organisationen der Epoche. Eine Konsequenz aus der Entwicklung zog 1882 Italien: Seither ernannte der König aufgrund eines Vorschlags des Kriegs- und des Marineministers den Präsidenten des Italienischen Roten Kreuzes. Das Rote Kreuz wirkte stabilisierend im Sinne des gesellschaftlichen Status quo, in den monarchischen Staaten überdies stabilisierend zugunsten der Monarchie, indem Mitglieder der Dynastien Spitzenämter in seinen nationalen Organisationen des übernahmen, wodurch andererseits dem Roten Kreuz der Glanz fürstlicher Anerkennung zuteil wurde. Der militärischen Führung der Staaten erwuchs im Zeitalter der Massenheere der unschätzbare Vorteil breiter volkstümlicher Verankerung des Roten Kreuzes, wie es aristokratische Organisationen - etwa Johanniter und Malteser in Deutschland - nicht hätten gewährleisten können. Gustave Ador, Mitglied des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes, zog aus alldem noch vor der Jahrhundertwende eine pragmatische Schlussfolgerung, indem er Moyniers Anregung zur Errichtung einer internationalen Föderation des Roten Kreuzes für obsolet erklärte, da sich fortan alle nationalen Gesellschaften den politischen Realitäten, das hieß den je eigenen nationalen Interessen unterordneten. Kein Wunder, dass die internationalen Konferenzen des Roten Kreuzes seither nur noch gesellschaftliche Ereignisse darstellten, die Grundsatzdebatten ausschlossen. Die Zuerkennung des Friedensnobelpreises an den fast totgeglaubten, inzwischen für den Pazifismus aufgeschlossenen Henry Dunant im Jahre 1901 konnte die selbstgerechten bellizistischen Philanthropen vom Roten Kreuz kaum noch in Verlegenheit bringen. Im Ersten Weltkrieg zeigte sich die hehre Idee auf trostlose Weise diskreditiert durch den Verzicht des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes auf Protest zum Beispiel gegen den Einsatz von Giftgas und durch den Verlust jeglicher Unparteilichkeit der nationalen Gesellschaften.

Hutchinsons verdienstvolles Werk enthält reiches Material zu weiteren Problemen der Geschichte des Roten Kreuzes, so zum Einsatz weiblicher Kräfte im Kriegsfall, zur Entwicklung des Verhältnisses zwischen Rotem Kreuz und Rotem Halbmond, zu Eigentümlichkeiten mancher Protagonisten des Roten Kreuzes (aufschlussreich z. B. das Wirken des US-Amerikaners Henry Davison) usw. Das Werk ist mit kompetent erläuterten Illustrationen opulent ausgestattet.

Karl Holl, Bremen



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