Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Annette Graczyk (Hrsg.), Das Volk. Abbild, Konstruktion, Phantasma, Akademie Verlag, Berlin 1996, geb., 250 S., 68 DM.

Die Tagung des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen, aus der dieser Sammelband hervorgegangen ist, hat im Sommer 1993 stattgefunden und liegt somit einige Zeit zurück. Es spricht sehr für ihre Qualität, dass der Band auch jetzt noch so frisch und anregend wirkt, wie man es vielen schneller publizierten (und rezensierten) Tagungsbänden wünschen möchte. Das liegt zum einen sicherlich am Thema: den Wahrnehmungsweisen, Modellierungen und Repräsentationen des Volkes und der Masse, der Anonymität und der Öffentlichkeit. Es geht also um die Ängste und Utopien, die Disziplinierungsversuche und Sinnstiftungsformen, mit denen seit der Französischen Revolution auf die Tatsache reagiert wurde, dass Menschenmengen geschichtsmächtig geworden waren. Zum anderen überzeugen die Multimedialität und der Facettenreichtum der Zugänge, mit denen die verschiedenen Autorinnen und Autoren sich dem Thema annähern. Diese Vielfalt kreist das Thema weniger ein als dass sie es freisetzt und zu Anknüpfungen animiert.

Der erste Abschnitt versammelt Beiträge zur bildlichen, literarischen und filmischen Symbolisierung von Massen. Susanne von Falkenhausen untersucht Visualisierungen des Volkes von seiner Abbildung als Souverän während der Französischen Revolution bis zu seiner Abbildung als Körper des Benito Mussolini und seiner körperlichen Symbolwerdung vor den Augen des „Führers" Adolf Hitler als aufmarschierte Masse. In literarischen Texten zwischen 1830 und 1920 untersucht Annette Graczyk die metaphorische Umbildung der Masse in Gewitter, Meere und andere elementare Naturgewalten - eine Metaphorik, in der die Geschichtsmächtigkeit der Massen bestätigt, aber gleichzeitig naturalisiert, entmenschlicht wird. Hanno Möbius' Studie zu Fritz Langs Film Metropolis (1927) betont die Geometrisierung der Massen und die damit verbundenen konträren Wertungen. Die Masse als Block, als marschierender Kader ist unerlöst, fremdbestimmt; die Masse als Dreieck ist erlöst, da aus sich selbst heraus gerichtet. Möbius argumentiert mit dieser Formanalyse der Langschen Massendarstellungen gegen die von Siegfried Kracauer u a. erhobene These, Filme wie Metropolis seien als cineastische Vorläufer des Nationalsozialismus und seiner Massenrepräsentationen zu betrachten. Die Lektüre des Beitrags lohnt sich für alle, die, wie ich, den Film zwar mehrfach, aber offensichtlich nie genau gesehen haben. Die Analyse Miriani Bratu Hansens von King Vidors The Crowd (1928) präpariert aus diesem amerikanischen Filmklassiker eine ironisch-zynisch gebrochene „Utopie" heraus: Der Protagonist überwindet seinen kleinbürgerlichen Dünkel und fügt sich in das Schicksal, Mitglied der anonymen, konsumierenden Masse zu sein. Vermittelt wird ihm dieser „Lerneffekt" durch seinen sozioökonomischen Abstieg, der ihn zum Sandwichman macht, auf dessen Reklameflächen steht: „I am always happy when I eat at Schweiger's Grill" - eine Pointe, die nach der ersten Massenarbeitslosigkeit in der Mediengesellschaft, also nach dem „Schwarzen Freitag", wohl nicht mehr gedreht worden wäre und auch heute an Biss nicht verloren hat.

Im zweiten Abschnitt sind vier Beiträge versammelt, die kontrollierende Perspektiven auf das Volk zum Thema machen. In „Der Kaiser kommt!" untersucht Hartwig Gebhardt anhand der Bildpresse des deutschen Kaiserreichs um 1900 die Darstellungen des Volks in Relation zum Kaiser. Er unterteilt in sehr nachvollziehbarer Weise eine konservative - Volk als „ikonographische Staffage" (S. 79) -, eine liberale - der volksnahe Kaiser als Objekt des Begehrens - und eine sozialdemokratische - Volk schafft Kaiser ab - Version dieser Beziehung und belegt dies mit z. T. verblüffendem Bildmaterial. Detlef Hoffmann entwickelt aus der Analyse eines Werbeplakats von Fritz Erler für die Sechste Kriegsanleihe 1917 die These, dies markiere einen Umbruch in der Visualisierung des Soldaten: Bisher habe eher der landsmannschaftliche Charakter der Soldaten - ihre bajuwarische o.a Folklorefähigkeit - dominiert und sei ihre soldatische Existenz mehr vergemütlicht als dramatisiert worden. Ab jetzt wurde die Härte des Grabenkriegs und die Todesbereitschaft des - nunmehr herkunftslosen - Frontsoldaten betont. Der Soldat als visualisierter heldischer Mann als solcher, dessen Gesichtszüge mit dem Stahlhelm zu einem frappierenden Mensch-Metall-Ensemble verschmelzen, tritt seine Karriere als Imago an. Die Verwerfungen des Volksbegriffs als Begriff für eine gedachte Ganzheit, aus der aber signifikante Bestandteile der empirischen Volksgesamtheit, nämlich Frauen und ethnische Minderheiten, ausgeschlossen sind, untersucht Margaret R. Higonnet an Bildern und Texten des Ersten Weltkriegs. Die „Volksgemeinschaft" als ein Aspekt nationalsozialistischer Ideologie wird von Norbert Jegelka zum Thema gemacht.

Der öffentliche Raum in verschiedener Gestalt ist Gegenstand des dritten Abschnitts. Beat Wyss untersucht am Beispiel des Bayreuther Festspielhauses die architektonisch-inszenatorische Situierung des Publikums im Theater und schlussfolgert, die Wagnerbühne sei in dieser Hinsicht der Vorläufer des Kinos gewesen, denn hier wie dort habe das Publikum im Dunkeln gesessen. Der vom Architekturkritiker Manfred Sack so benannte „Nicht-Platz schlechthin" (S. 150), nämlich der (West-)Berliner Ernst-Reuter-Platz, ist Gegenstand von Dagmar Gausmanns Beitrag. Ihre kurze, aber aufschlussreiche Darstellung der Stadtplanung in der Zeit des kalten Kriegs, in der die Ost-Berliner Vorliebe für Achsen als räumliche Ordnungselemente das zu eliminierende Andere darstellte, erhellt, welche mentalen Bedingungen zusammenkommen müssen, um einen überdimensionalen Kreisverkehr wie denjenigen am Ernst-Reuter-Platz für eine städteplanerische Hommage an die Demokratie zu halten.

Am Beispiel des 1992 eingeweihten neuen Plenarbereichs des Bonner Bundestags untersucht Heinrich Wefing die „Metaphorik gläserner Transparenz" (S. 175) in der Parlamentsarchitektur und die Verbindungen, die diese Gleichsetzung von Lichtdurchlässigkeit mit Öffentlichkeit und Wahrheit sowie mit dem demokratischen Selbstverständnis des westdeutschen Staates nach 1945 eingehen. Die verschiedenen gewollten und ungewollten Implikationen, die mit der Einrichtung der „Zentralen Gedenkstätte" der Bundesrepublik in der „Neuen Wache" unter den Linden in Berlin 1993 verbunden waren, in deren Zusammenhang eine Kleinplastik von Käthe Kollwitz ihren „Blow Up zum Nationaldenkmal" (S. 185) erlebte, analysiert Viktoria Schmidt-Linsenhoff in einem hinreißenden Aufsatz. Abgeschlossen wird der Band von Dieter Sterzeis Beitrag zur verfassungsrechtlichen Modellierung der Masse durch Demonstrationsrecht und -praxis in der Bundesrepublik und von Helmut Lethens sozialphilosophischer Auseinandersetzung mit dem Topos vom antinomischen Verhältnis zwischen Masse und Individuum.

Viele weitere Bände zu diesem Thema der Wahrnehmungsgeschichte und der Symbolisierungsweisen der Massen und der Mengen wären zu wünschen (etwa über die Menge im seuchenpolizeilichen Diskurs des 19. Jahrhunderts, über „die Massen", die in den Jahren nach 1945 für den Nationalsozialismus haftbar gemacht wurden, oder über die bundesdeutsche Medienberichterstattung über die Menschenmassen, die 1989 die DDR zum Einsturz brachten, zu deren TV-Symbol aber, wenn ich das richtig sehe, nicht diese Massen, sondern einzelne DDR-Individuen im Gehäuse ihres Trabis wurden, gefilmt in dem Moment, in dem sie Westberliner Territorium erreichten). Denn dies ist, wie der Band illustrieren kann, ein zentrales Thema der Moderne (auch und gerade in ihren Post-Versionen): Sie unterscheidet sich von früheren Epochen nicht nur dadurch, dass Menschenmengen geschichtsmächtiger geworden sind, sondern mindestens ebenso sehr dadurch, dass die Wahrnehmungsweisen, symbolischen Aufladungen und Perhorreszierungen von Menschen in Mengen geschichtsmächtig geworden sind.

Ute Daniel, Braunschweig



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