Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Jens Bruning, Das pädagogische Jahrhundert in der Praxis: Schulwandel in Stadt und Land in den preußischen Provinzen Minden und Ravensberg 1648-1816 (= Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Band 15), Verlag Duncker & Humblot, Berlin 1998, 466 S., kart., 132 DM.

Die Schul- und Bildungsgeschichte hat in der deutschen Historiographie eine lange Tradition, und seit gut hundert Jahren werden unsere Kenntnisse zur Geschichte des Bildungswesens fortlaufend erweitert. Von besonderer Bedeutung war das späte 18. Jahrhundert, denn damals entstanden die klassischen pädagogischen Theorien, deren Umsetzung auf breiter Basis angestrebt wurde.

Die Realisierung dieses Reformprogramms am Beispiel der preußischen Westprovinz Minden-Ravensberg zu untersuchen, ist das Ziel des Buchs von Jens Bruning. Bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts hatte zwar infolge reformatorischer Bildungsinitiativen jedes Kirchspiel eine eigene Schule, und bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts waren fast alle Nebenschulen gegründet worden, aber das sicherte noch nicht notwendig die Vermittlung schriftkultureller Elementarkenntnisse. Bei der Untersuchung der Schulwirklichkeit bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts stellt Bruning fest, dass die Unterrichtsbedingungen kaum einen guten Unterricht ermöglicht haben. Bezahlung und Ausbildung der Lehrer waren schlecht, Unterricht fand nur im Winter statt, die Aufsicht führende Kirche interessierte sich vor allem für den vorbildlichen Lebenswandel der Lehrer, und der Unterricht war fast ausschließlich auf die Vermittlung von christlicher Lehre und Lesekenntnissen ausgerichtet. Die meisten Quellen, mit denen Bruning das Erscheinungsbild des Schulwesens bis 1750 dokumentiert, stammen freilich aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, und sie belegen in erster Linie die bekannten schulischen Mängel, die die Reformer in dieser Zeit immer wieder kritisierten. Um die Situation vor 1750 angemessen darzustellen, wäre jedoch neben einer quellenkritischeren Analyse der schulischen Zustände auch eine Reflexion über die Zielsetzung der Schulen zwischen Reformation und Aufklärung, die vor allem in der Vermittlung des richtigen Glaubens und Verhaltens bestand, nötig gewesen.

Hinsichtlich der Umsetzung der Schulreformen im späten 18. Jahrhundert kommt Bruning je nach Schultyp zu unterschiedlichen Ergebnissen: Während er bei den Gymnasien und den ländlichen Elementarschulen seit dem Ende des Siebenjährigen Kriegs eine "Phase des Wandels und der Dynamik" sieht, können die Reformen im städtischen Elementarschulwesen nicht Fuß fassen. Elemente der Reform sind die Einrichtung von Seminaren zur Lehrerausbildung, die Einführung praktischer Unterrichtsfächer, die Übernahme neuer Unterrichtsmethoden sowie der Ausbau der Schulgebäude. Gegen Ende seines Untersuchungszeitraums sieht Bruning wesentliche Verbesserungen durchgesetzt, ohne jedoch hierfür eindeutige Indikatoren zu präsentieren. Das gilt vor allem für die Reformen in den Landschulen. Er zitiert zwar eine ganze Reihe von Berichten und Initiativen, aber die Umsetzung der Reformen in den Schulen selbst wird kaum thematisiert, und aus allgemeinen Faktoren, wie etwa Lehrerfortbildungsinitiativen, schließt er auf die Verbesserung des Schulwesens. Letztlich weist er nur nach, dass es auch in Minden-Ravensberg praktische Bemühungen gab, das Schulwesen zu verbessern, welche Konsequenzen für die schulische Realität und den Bildungsstand sie hatten, belegt er nicht.

Bezüglich der Frage, welche Personen und Institutionen die Schulreformen förderten, kommt Bruning zu dem Schluss, dass der absolutistische preußische Staat auf eine zentral gelenkte Schulpolitik verzichtete. Die Schulpolitik wurde regionalen Behörden, vor allem dem Konsistorium und der Regierung Minden überlassen. Beide stammten aus der Zeit vor der Umgestaltung der Verwaltungsbehörden im 18. Jahrhundert, und hieraus schließt Bruning, dass sie keine absolutistischen Behörden waren und dass die Schulpolitik nicht Bestandteil der modernen absolutistischen Politik war. Doch auch diese Behörden wirkten nach seinem Urteil kaum auf die Entwicklung des Schulwesens ein. Die eigentlichen Anstöße zur Verbesserung der Gymnasien und der Landschulen werden von engagierten Rektoren, Superintendenten und örtlichen Geistlichen in die Wege geleitet, und dies beurteilt Bruning als "Schulreform von unten". Die Tätigkeit dieser Personen kann aber unmöglich als Initiative von unten beurteilt werden, gehörten sie doch zu den kulturell und politisch dominierenden gesellschaftlichen Schichten Minden-Ravensbergs. Zudem war der Superintendent keine Privatperson, sondern als Mitglied des Konsistoriums ein Vertreter des preußischen Staats. Es ist zwar richtig, dass es bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein keine konsequent vereinheitlichende preußische Schulpolitik gab – hierin gehen Brunings Ergebnisse mit anderen Studien zur preußischen Schulpolitik konform – aber die Absolutismusforschung hat in den letzten Jahren gezeigt, dass die Umsetzung absolutistischer Politik in allen Gebieten von erheblichen Defiziten geprägt war. Insofern war es vielleicht ein Glücksfall, dass die Schulverbesserungen in Minden-Ravensberg von lokalen Kräften gefördert wurde und sie nicht auf die staatlichen Zentralbehörden angewiesen waren. Daher erstaunt auch Brunings These, dass in den katholischen Territorien in dieser Zeit ein Bildungsvorsprung zu verzeichnen war, weil hier die Schulpolitik von zentralen staatlichen Gremien gelenkt worden ist. Dem ist entgegen zu halten, dass eine zentral organisierte Schulpolitik noch lange keinen größeren Erfolg garantiert, und wenn von einem höheren Bildungsstand gesprochen wird, muss dies auf der Basis real existierender Kenntnisse in der Bevölkerung und nicht anhand der Zentralität und Staatlichkeit der Bildungsinitiativen erfolgen.

Die Arbeit von Bruning ist zwar eine materialreiche Studie mit vielen interessanten Einzelergebnissen, und sie erweitert das Bild der Bildungslandschaften in der Frühen Neuzeit um eine weitere Facette, aber sie ist zu sehr auf die mittlere bildungspolitische Ebene und die Rolle zentralstaatlicher Politik fixiert, um ihrem Anspruch, die Umsetzung der pädagogischen Reformen zu untersuchen, gerecht zu werden. Um dieses Ziel adäquat zu verfolgen, hätte der Verfasser zumindest in einigen Fallstudien die Realisierung der Reformen vor Ort untersuchen müssen. Hierdurch hätte er auf jeden Fall die lokal wirksamen Kräfte, die nach seinem Urteil die Entwicklungen entscheidend vorantrieben, besser erfassen können als es mit der von ihm gewählten überblicksartigen Darstellung der allgemein bekannten Reformfaktoren möglich ist.

Reiner Praß, Göttingen


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