Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Angelika Epple, Henriette Fürth und die Frauenbewegung im deutschen Kaiserreich. Eine Sozialbiographie, Centaurus-Verlagsgesellschaft, Pfaffenweiler 1996, 202 S., brosch., 38 DM.

"Es tut weh, ein Paria zu sein." Mit diesem Satz resümiert Henriette Fürth in ihren (bislang unveröffentlichten) Lebenserinnerungen ihre in die Kindheit zurückreichende Erfahrung, sich fremd und ausgeschlossen zu fühlen. Er scheint mir grundlegend für das Verständnis ihres Lebens und Engagements. Das Gefühl, nie ganz dazuzugehören, verbunden mit dem Willen zur Selbstbehauptung und zur geistigen Unabhängigkeit werden in ihren Erinnerungen als Leitmotive ihres Lebens sichtbar. Fürth engagierte sich gegen drei Formen gesellschaftlicher Diskriminierung: die der Juden, der Frauen und der Arbeiter. Mit zahlreichen Büchern und Aufsätzen sowie durch die ehrenamtliche Mitarbeit in Organisationen setzte sie sich für ihre Ziele ein. Da sie weder religiösen noch politischen Dogmen folgte, noch sich kritiklos ein- und unterordnete, geriet sie mitunter auch innerhalb der jeweiligen Gruppe in die Position der Außenseiterin: Sie war den konservativen Juden nicht jüdisch genug, den Proletarierinnen zu bürgerlich frauenrechtlerisch, den Bürgerlichen zu sozialistisch. Andererseits ermöglichte ihr diese Randständigkeit, Gruppen- und Klassengrenzen zu überwinden und zu vermitteln. Sie war in der bürgerlichen wie in der proletarischen Frauenbewegung als Expertin für sozialpolitische Themen ebenso geschätzt wie in den Kreisen bürgerlicher Sozialreformer, und sie meldete sich in fast allen wichtigen Debatten wie Frauenerwerbsarbeit, Arbeiterinnen- und Mutterschutz, Reform der sexuellen Ethik, Prostitution, Bevölkerungspolitik zu Wort.

Die Sonderstellung Fürths, ihr 'Nie-Ganz-Dazugehören', wirkt sich bis heute auf die Wahrnehmung ihrer Persönlichkeit durch die historische (Frauen-)Forschung aus. Sie taucht in den einschlägigen Studien nur am Rande auf, beispielsweise bei Niggemann und Evans, für die sie vor allem als Gegnerin Zetkins erwähnenswert erscheint, wurde aber bislang nicht in ihrer Vielseitigkeit gewürdigt. Angelika Epple nahm sich vor, diese Forschungslücke zu schließen. Leider jedoch ist ihre als Sozialbiographie angekündigte Aufarbeitung von Leben und Werk Henriette Fürths ein ein kaum gelungener Versuch, der komplexen Persönlichkeit und ihrem Umfeld gerecht zu werden. Das liegt zum einen daran, dass die Quellenbasis zu dünn ist. Epples Hauptquelle sind die unveröffentlichten Lebenserinnerungen sowie Aufsätze und Bücher Fürths. Was Fürths Engagement in einzelnen Organisationen angeht, verlässt sie sich auf deren Schilderungen und recherchiert keine weiteren Quellen. Hinzu kommt, dass die Autorin die Geschichte der Frauenbewegungen des Kaiserreichs sehr oberflächlich einbezieht. Es gelingt ihr nicht, die inhaltlichen Positionen Fürths angemessen als eine Stimme in den Debatten der Frauenbewegung zu interpretieren und zu anderen Beiträgen in Bezug zu setzen - was den eingangs angestellten Überlegungen zur Methode der Sozialbiographie zu Folge durchaus beabsichtigt war. Auch die Darstellung der Organistionen, in denen Fürth maßgeblich engagiert war, ist unzureichend.

Die Konsequenz dieses Verfahrens sind neben kleineren Ungenauigkeiten auch erhebliche Fehlschlüsse, was sich am Beispiel der Frankfurter Rechtsschutzstelle für Frauen zeigen lässt: Diese wurde, wie Epple aufgrund der Angaben in einem Aufsatz Fürths über diese Organisation sowie den entsprechenden Passagen in der Autobiographie weiß, 1897 von der Frankfurter Ortsgruppe des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins (ADF) gegründet. Fürth übernahm den Vorsitz, und es war ihrer Überzeugungskraft zu verdanken, dass sich dieser bürgerliche Frauenverein mit den streikenden Isenburger Wäschereiarbeiterinnen solidarisierte und durch einen wirkungsvollen Boykottaufruf half, den Arbeitskampf im Sinne der Arbeiterinnen zu entscheiden. Die Irrtümer Epples beginnen, als sie aus diesen Informationen über die Verbindung von Fürth und dem ADF weitergehende Schlüsse zieht, ohne andere Quellen zu berücksichtigen (die im Archiv der Stadt Frankfurt durchaus vorhanden sind). So meint sie, dass sich aus der Mitarbeit Fürths folgern ließe, dass "noch andere Frauen der proletarischen Frauenbewegung in der Rechtsschutzstelle mitgearbeitet haben" (S. 101). Das war laut Mitgliederverzeichnis nicht der Fall. Fürth nahm auch hier eine Sonderstellung ein. Ebensowenig engagierte sie sich "viele Jahre" (S. 98) in der Rechtsschutzstelle. Fürth legte nach einem Jahr, 1898, den Vorsitz nieder. Zwar stimmt es, dass es kaum Forschungsliteratur zur Rechtsschutzstellen der Frauenbewegung gibt (eine Studie ist inzwischen erschienen), aber es gibt im "Handbuch der Frauenbewegung" (1901) einen Aufsatz von Marie Stritt, einer der maßgeblichen Protagonistinnen der Frauenrechtsschutzbewegung, der es Epple ermöglicht hätte, über Fürths Sichtweise hinaus auf den Kontext einzugehen.

Genauso unbefriedigend erfasst Epple auch die Verbindung von Henriette Fürth zum Bund für Mutterschutz. Dass zur Charakterisierung der Ziele dieser Organisation ausgerechnet ein Zitat einer ihrer entschiedensten Gegnerinnen, der Vorsitzenden des Deutsch-Evangelischen Frauenbundes, Paula Müller, herangezogen wird, ist reichlich seltsam. Und angesichts der zahlreichen Aufsätze von Henriette Fürth und ihrer Kontrahentin Helene Stöcker zum Thema Sexualreform und (uneheliche) Mutterschaft lässt sich sehr genau herausarbeiten, was die beiden jeweils unter der "Neuen Ethik" verstehen wollten. Epple unternimmt das nicht einmal ansatzweise. Nur auf die Auseinandersetzung zwischen Zetkin und Fürth geht die Autorin ausführlicher ein. Diese entzündete sich an der Frage, inwieweit eine Kooperation zwischen proletarischer und bürgerlicher Frauenbewegung wünschenswert sei. Fürth widersprach Zetkins Dogma der "reinlichen Scheidung" in der Theorie wie in der Praxis, ohne dass das zu einem dauerhaften Bruch zwischen beiden Frauen geführt hätte. Henriette Fürth war in vieler Hinsicht eine Ausnahme. Die am Ende wiederholte These der Autorin, aus Fürths Engagement quer zu den Klassengrenzen ließe sich ein allgemeines Merkmal der Frauenbewegungen des Kaiserreichs ableiten, bleibt eine nach wie vor unbewiesene Behauptung.

Christina Klausmann, Frankfurt/Main



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