Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Alexander Thomas, Carl Severing - ein Demokrat und Sozialist in Weimar, 2 Bde., Verlag Peter Lang, Frankfurt/Main etc. 1996, 1217 + 157 S., brosch., 238 DM.

„Vor uns stand die Personifizierung der Weimarer Demokratie. Ausgezeichnet organisiert und tadellos in administrativer Hinsicht. Aber ohne Geist und Mut. Und nicht nur dies: eingebildet, dünkelhaft, in sich selbst verliebt, unverbesserlich und unbelehrbar". Dieses Verdikt Isaac Deutschers galt einem Mann, der heute vor allem deshalb bekannt ist, weil er in einer entscheidenden politischen Situation versagte: Als letzter preußischer Innenminister der Weimarer Republik versäumte es Carl Severing, den verfassungswidrigen "Preußenschlag" des Reichskanzlers von Papen abzuwehren und damit die letzte demokratische Bastion gegen den zur Macht drängenden Nationalsozialismus zu verteidigen. Deutschers böse Bemerkung charakterisiert Severing als einen sozialdemokratischen Apparatschik, dessen Fähigkeit sich im Verwalten erschöpfte und der nicht in der Lage war, die von ihm mitverantwortete Katastrophe zu reflektieren. Severing gehörte wie Gustav Noske und Paul Lobe zu den prominenten Sozialdemokraten, die die Jahre zwischen 1933 und 1945 ohne größere Schwierigkeiten in Deutschland überstanden. Jüngere Emigranten wie Willy Brandt betrachteten ihn deshalb misstrauisch, und Kurt Schumacher, dem man im Konzentrationslager brutal misshandelt hatte, verweigerte Severing kategorisch eine führende Position in der Nachkriegs-SPD.

Diesem umstrittenen Sozialdemokraten widmet Thomas Alexander eine zweibändige Biographie, die in ihrer Detailversessenheit jeden Rahmen sprengt. Sie macht jedoch deutlich, dass Carl Severing, der 1875 in Herford geboren wurde, als ein typischer Repräsentant der deutschen Arbeiterbewegung im Kaiserreich angesehen werden kann.

Nach einer Schlosserlehre engagierte er sich frühzeitig in der örtlichen Metallarbeitergewerkschaft, betrieb daneben eifrig seine Weiterbildung und schrieb Artikel für die Parteizeitung „Volkswacht". Nach seinem Eintritt in die Bielefelder Dürkopp-Maschinenwerke wurde er 1896 zum Verhandlungsführer der großen Streikbewegung gewählt, deren Scheitern ihm vor Augen führte, wie wichtig eine effiziente Interessenorganisation ist.

Severings Politikerkarriere begann in der Bielefelder Sektion des Deutschen Metallarbeiterverbandes und als Stadtverordneter im Kommunalparlament; er entwickelte sich nicht nur zu einem Experten für Tariffragen, sondern bemühte sich, der Arbeiterschaft die Wichtigkeit von Bildung zu vermitteln und ihr die bürgerliche Kultur nahezubringen.

Mit den sog. „Hottentottenwahlen" zog der Zweiunddreißigjährige 1907 als jüngster Abgeordneter in den Berliner Reichstag, wo er neben Scheidemann, Ebert, Braun, Frank und Noske zur neuen Generation von Sozialdemokraten gehörte, die z.B. die Kolonialpolitik des kaiserlichen Deutschland nicht mehr grundsätzlich verwarfen, sondern nur noch deren Auswüchse kritisierten. Severing schloss sich dem reformerischen Flügel um den Süddeutschen Ludwig Frank an und stimmte in den internen Auseinandersetzungen stets mit den gemäßigten Kollegen, die für eine Zusammenarbeit mit bürgerlichen Parteien und für Reformen im monarchischen Staat eintraten. Nach dem Verlust des Reichstagsmandats 1912 übernahm Severing die Redaktion der „Volkswacht". Sein Einfluss in Partei und Gewerkschaft wuchs ständig, er gehörte inzwischen „in die Riege der führenden Funktionäre der deutschen Arbeiterbewegung". In den kritischen Augusttagen des Jahres 1914 zählte Severing zu den entschiedenen Befürwortern der Burgfriedenspolitik und der regelmäßigen Bewilligung von Kriegskrediten für die kaiserliche Regierung.

Der Schwerpunkt von Carl Severings politischem Leben liegt jedoch in der Nachkriegszeit, der auch Alexander mehr als zwei Drittel seiner Darstellung widmet. Severing verkörperte die politische Tragödie der Weimarer Sozialdemokratie, die 1918 an die Schaltstellen der Macht gelangte, in der Folgezeit aber vor den reaktionären und diktatorischen Kräften kapitulierte und am Ende um ihr Leben kämpfen musste. Als rechts stehender Sozialdemokrat, dem die Zusammenarbeit mit bürgerlichen Parteien näherlag als mit den revolutionären Kräften aus der USPD war Severing nach der Revolution Mitglied der Nationalversammlung, der Preußischen Landesversammlung und des Bielefeler Stadtrates und führte mit anderen Genossen die Gespräche über die Regierungskoalition im Reich. Er galt als entschiedener Befürworter der späteren Weimarer Koalition aus MSPD, Zentrum und DDP und war wie Ebert und Noske ein Repräsentant der gemäßigten Sozialdemokratie, der die schwierige Aufgabe zufiel, gegen eine sich radikalisierende Anhängerschaft vorgehen zu müssen, wenn es die politische Situation erforderte. Als Reichs- und Staatskommissar während der großen Streiks im Ruhrgebiet versuchte er sowohl den Aktionismus revolutionsbereiter Gruppen als auch die ausufernden Gewaltmaßnahmen der Militärs einzudämmen. Doch auch Severing musste sich angesichts des Kapp-Putsches und des Ruhrkampfes 1920 eingestehen, dass seine Kompromisspolitik gescheitert war und dass sich viele Arbeiter enttäuscht von seiner Partei abwandten.

Im Rahmen der Neubildung der preußischen Regierung nach dem Kapp-Putsch avancierte Severing zum Innenminister im Kabinett seines Parteifreundes und Antipoden Otto Braun. Als „System Severing" bezeichneten bereits Zeitgenossen das Bemühen des Innenministers um ein demokratisches Preußen, das in die Lage versetzt werden sollte, dem Extremismus von links und rechts wirkungsvoll entgegenzutreten. Neben der Säuberung des mit Kapp-Putschisten verfilzten Beamtenapparates, dem Neuaufbau einer Verwaltung, die sich uneingeschränkt zur Republik bekennen sollte, war für ihn die Reorganisation der preußischen Sicherheitspolizei wichtig. Die Personalpolitik Entscheidungen Severings, seine Überlegungen, Vorschläge und Denkschriften – auch die seiner Mitarbeiter – werden bei Alexander so ausführlich dukumentiert, dass auch der geduldigste Leser zuweilen resigniert. Der Kampf gegen rechts- und linksradikale Vereinigungen, den Severing mit seiner neuorganisierten Schutzpolizei bestand, weist ihn als einen energischen Politiker und potenziellen Rivalen von Otto Braun aus. Doch 1926 musste der von den Radikalen und eigenen Genossen angegriffene Minister, der in der Öffentlichkeit gleichwohl als tatkräftiger Politiker galt, zurücktreten.

Als Reichsinnenminister der Großen Koalition unter Kanzler Müller startete er eine zweite Karriere und führte seinen Kampf gegen den Rechtsradikalismus unbeirrt fort, auch während im Reich bereits die Präsidialkabinette von Brüning bis Schleicher die Politik bestimmten. Severing war Preußens letzter Innenminister, der das „Bollwerk Preußen" gegen den anstürmenden Radikalismus zu verteidigen suchte. Auf 150 Seiten werden die Ereignisse geschildert, die zu Papens Putsch am 20. Juli 1932 führten. Trotz Severings Ankündigung, „nur der Gewalt" zu weichen, räumten Braun und sein Innenminister kampflos ihre Posten. Wie schon Hagen Schulze feststellte, gab es angesichts der realen Machtverhältnisse in Preußen und im Reich keine Chance, gegen die Putschisten politisch vorzugehen. Dennoch bleiben Severing und Braun bis heute mit dem Makel behaftet, vor dem Radikalismus kapituliert zu haben.

Severings langes Politikerleben in einer Zeit, die durch Krisen und Katastrophen gekennzeichnet war, verdient zweifellos eine biographische Darstellung, zumal er ein klassischer Exponent der deutschen Sozialdemokratie war, die zwischen 1918 und 1933 über einen großen Einfluss verfügte. Alexanders fleißige Arbeit, die die Interdependenz von Person und Struktur untersucht, hätte allerdings gewaltig gekürzt werden müssen, um eine klarere Struktur zu bekommen.

Diethard Hennig, Langensendelbach



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