Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Es gilt nicht nur drei hervorragende Stadtstudien zu rezensieren, die jede für sich bereits einen wesentlichen Beitrag zur kommunalen Forschung leisten, sondern zugleich auch zu den ersten Ergebnissen des Frankfurter „Gall-Projekts" Stellung zu nehmen, also zu dem Bürgertumsprojekt, das sich neben dem Bielefelder Sonderforschungsbereich 177 („Sozialgeschichte des neuzeitlichen Bürgertums im internationalen Vergleich") im letzten Jahrzehnt in besonderem Maße mit dem Bürgertum im 19. Jahrhundert beschäftigt hat. Alle drei Frankfurter Studien besitzen einen gemeinsamen theoretischen und methodischen Hintergrund, gehen von gemeinsamen Datensätzen und computergestützten Materialien aus, haben ähnliche Fragestellungen und Voraussetzungen, sind vergleichbar gegliedert - und wenden sich gegen die Ansätze der „Bielefelder Konkurrenz".

Ausgangspunkt der Studien ist jeweils eine Stadt, die als geographischer Raum wie auch als sozial-politische Einheit interpretiert wird. Sie gilt für die Autoren als entscheidender Aktionsrahmen des deutschen Bürgertums im späten 18. und im gesamten 19. Jahrhundert. In diesem Punkte stimmen „Frankfurter" und „Bielefelder" (noch) überein. Das „Frankfurter Projekt" geht jedoch das Problem von „Bürgertum" und „Bürgerlichkeit", also die zentrale Frage, was bestimmte Gruppen in einer Stadt letztlich zum Bürgertum macht und wie dieses Bürgertum in seiner Konstituierung, Existenz und Entwicklung für den Historiker zu fassen ist, anders als „die Bielefelder" an.

Untersucht werden sollen die städtischen Führungsgruppen nach ihrer Auffassung durch eine eher personale Betrachtungsweise (Roth, S. 26). Abgelehnt wird ein strikt analytischer Ansatz, durch den sich das Bürgertum - so die Kritik - nur in seine einzelnen Sozialgruppen auflösen, die Sicht auf das Gemeinsame aber verloren gehen würde. Dieser Standpunkt wird „gegenüber der sonst in der Sozialgeschichte dominierenden Untersuchung der 'Strukturen' besonders betont". Umgesetzt werden soll diese Zielsetzung mit Hilfe eines Positionsansatzes, der die städtischen Führungsgruppen erfasst, die sich aus politischer Führungsschicht und wirtschaftlicher Oberschicht zusammensetzen. Näher begründet und theoretisch sinnfällig gemacht wird diese Auswahl allerdings nicht.

Den drei Verfassern der Städtestudien geht es also nicht um eine abstrakte Schichtenanalyse. Sie sehen das Bürgertum im „Zusammenhang von städtischem Milieu und sozialer Identitätsbildung" (Roth, S. 19). In der „Interaktion aller bürgerlichen Gruppen" bildet sich demnach „ihre soziale, politische und kulturelle Einheit im Sozialraum Stadt". Um es auf den Punkt zu bringen: Dass es ein Bürgertum in jeder Stadt gegeben haben muss, wird in dem Gesamtprojekt gewissermaßen axiomatisch behauptet. Was dessen Einheit ausmachte, wird vage als „städtisches Milieu" bezeichnet. Was dieses aber ist und woraus es besteht, wie es sich entwickelt, welche Mechanismen der In- oder Exklusion es jeweils auszeichnen, wird weitgehend offen gelassen.

Während Ralf Roth in seiner Frankfurt-Studie die sich damit verbindende Problematik immerhin partiell in seine Argumentation aufzunehmen versucht, gesteht Thomas Eichel (S. 20), der es in seiner Wiesbadener Studie mit dem „Frankfurter Ansatz" offenbar besonders schwer hat, ein: „Die Frage nach den konstitutiven Elementen und der Einheit des Bürgertums wird in der vorliegenden Untersuchung immer wieder gestellt werden, generelle Antworten für das gesamte 19. Jahrhundert können [jedoch] erst auf der Grundlage des ausgebreiteten Materials des gesamten Forschungsprojektes gegeben werden." Man darf auf diese (späteren) Antworten gespannt sein. Bisher fehlen sie noch.

Gerade aber mit der von den „Frankfurtern" wenig beachteten Problematik mühen sich viele Arbeiten aus der „Bielefelder Schule" ab (vgl. etwa Hans-Walter Schmuhl: Die Herren der Stadt. Bürgerliche Eliten und städtische Selbstverwaltung in Nürnberg und Braunschweig vom 18. Jahrhundert bis 1918, Gießen 1998). Sie wollen untersuchen, was und welche Elemente die verschiedenen sozialen Gruppen nicht nur zum Bürgertum einer konkreten Stadt sondern auch zum „Bürgertum" generell zusammenschweißen: Sie fragen, wie dieser Vorgang ablief und welche Bedingungen dafür verantwortlich waren.

Ihr vorläufiges Ergebnis besteht u.a. auch darin, dass sie über sozial-ökonomische Faktoren hinauszugehen versuchen. Für diesen Versuch steht der Begriff der „Bürgerlichkeit". Damit gemeint ist ein Habitus, der eine spezielle Art der Lebensführung beschreibt und vor allem den kulturellen Aspekt des Bürgertums als ganz wesentliches Element umfasst. Dies ist eine Einsicht, die für „harte" Sozialgeschichtler der alten Bielefelder Schule durchaus bemerkenswert ist und sicherlich oft erst schmerzlich erworben werden musste. Das praktische Eingehen auf diese Erkenntnis zeigt die hohe methodische Flexibilität der Bielefelder Forschungsgruppe gegenüber dem zu untersuchenden Gegenstand „Bürgertum".

Diese „weichen" Variablen der Bielefelder Konstruktion lehnen die Frankfurter, gewissermaßen in einer Art Rollentausch mit der alten Bielefelder „Schule", massiv ab (Roth, S. 18f.): „Eine der mächtigsten Sozialformationen der deutschen Geschichte soll ein luftiges Gebilde gewesen sein, das lediglich von einer ideologischen Hülle zusammengehalten wurde. Unreflektiert wandelt sich Sozialgeschichte zu einer Ideen- und Kulturgeschichte. Das Konzept der 'Bürgerlichkeit' stellt eine kaum verhüllte Kapitulation der Sozialhistoriker vor ihrem Untersuchungsgegenstand dar. Der Begriff blieb undeutlich und mit dem dahinterstehenden Modell kann nicht hinreichend erklärt werden, was die Einheit des Bürgertums und seine Dynamik als gesellschaftsverändernde Kraft ausmachte." Zudem sei diese Konstruktion (Zerback, S. 15) ein reiner Zirkelschluss und methodisch daher völlig unbefriedigend.

Statt dessen setzt das Frankfurter Projekt auf das Stadtbürgertum. Hierbei heben die drei Verfasser folgendes hervor: Während die Bielefelder Historiker dem „alten Stadtbürgertum" nicht ihr Hauptaugenmerk zuwenden, sondern dieses eher als Verhinderer des neuen bürgerlichen Fortschritts interpretieren, betonen sie (Zerback, München, S. 14), dass auch das traditionelle Stadtbürgertum, wenn man seine Politik nur „richtig" deute, ein wesentlicher Träger des bürgerlichen Fortschritts und der bürgerlichen Kontinuität im 19. Jahrhundert gewesen sei. Gerade das alte Stadtbürgertum habe die Fähigkeit besessen, die Zukunft mitzugestalten, und könne daher nicht vor allem als Verhinderer von Reformen in die Ecke gestellt werden.

Diese Sichtweise hat - so die Auffassung aller Autoren - auch methodische Vorteile, denn das Stadtbürgertum biete einen sehr geeigneten Rahmen für eine historisch genetische Untersuchung: „Somit ist es das Stadtbürgertum, dessen Erforschung einen geeigneten Zugang zur Analyse auch des modernen Bürgertums und der bürgerlichen Gesellschaft liefert. Ein solcher Ansatz ermöglicht es ohne methodische Probleme [!], wenn nötig auch über das Stadtbürgertum hinaus zu blicken oder andererseits stadtbürgertumsinterne Fragmentierungen wahrzunehmen." (Zerback, S. 17) Dies zur generellen Position und zum wissenschaftlichen Umfeld der zu besprechenden Studien.

I

Thomas Weichel versucht auf etwa 400 Seiten, die Geschichte Wiesbadens und seiner Bürger über den weiten Zeitraum von fast 130 Jahren nachzuverfolgen. Sein Ziel ist es, die Geschichte der Stadt nicht nur und vor allem als die „jene[r] steuerunwilligen Rentiers aus dem ganzen Reich zu verstehen..., die nach 1870 in die Stadt einwanderten und die nach 1880 zunehmend auch politisch die Geschicke der Stadt bestimmten", sondern weiterreichende Kontinuitäten auszumachen und die Rolle des alten Stadtbürgertums insgesamt aufzuwerten (Weichel, S. 15f.). Das ist aber gerade im Falle Wiesbadens ein durchaus schwieriges Unterfangen.

Aus diesem Grunde beginnt Weichel seine Darstellung schon weit vor der Transformation der Stadt in eine reiche „Rentnermetropole". Auf diese Weise kann er die Fortschrittlichkeit des alten Stadtbürgertums leichter würdigen, dessen Bedeutung eben nur bei einer Perspektive mit einem solch langen Atem deutlich wird. Seine erkenntnisleitende Frage ist u.a., inwieweit dieses alte Bürgertum die Stadtpolitik bestimmte und zugleich jeweils an der Veränderung des Charakters der Stadt beteiligt war. Es geht also in der Studie auch um das Verhältnis der verschiedenen Gruppen zueinander und um die Frage, wer Träger des Aufstiegs war und wer Widerstand gegen Modernisierung und den Ausbau der Stadt leistete.

Die Arbeit gliedert sich in drei große Kapitel: In die Zeit bis 1816 („Bürgerbewußtsein und Hauptstadtfunktion"), in den Bereich von 1816 bis 1852 („Die Neuformierung des städtischen Bürgertums") und in die Phase bis zum Ersten Weltkrieg („Zwischen politischer Opposition und wirtschaftlicher Prosperität"). Die Gliederung wird bedingt u.a. durch den Funktionswechsel der Stadt, der zu wichtigen strukturellen Brüchen für die Bürgerschaft und bürgerliche Eliten führte.

In der ersten Phase der Geschichte Wiesbadens dominierte die Gruppe der Badewirte die nassauische „Kleinstadt". Sie drückte nicht nur der Stadtpolitik ihren Stempel auf, sondern sie wusste sich auch gegenüber den Fürsten des nassau-usingischen Staates in ihren Rechten zu behaupten. Dies gilt allerdings nicht mehr für die Zeit nach 1803, als Wiesbaden das Zentrum eines Staates wurde, dessen Einwohnerschaft auf immerhin 400.000 Pesonen angewachsen war. „Gegenüber einem immer selbstbewusster agierenden und durch Reformen gestärkten Staatsapparat geriet Wiesbadens alte Elite [nun] zunehmend stärker in die Defensive. Über der vergeblichen Verteidigung der alten Rechte und Privilegien sowohl für sich selbst als auch für die gesamte Stadt verpasste sie die Chancen, die in der staatlichen Förderung des Ausbaus Wiesbadens zur Hauptstadt lagen." (S.347)

Diese Entwicklung führte zu einem ersten großen Machtwechsel in der Stadtpolitik. Innerhalb weniger Jahre kam es - bedingt durch Zuwanderungen, aber auch durch ein neues Wahlrecht - zu einem klar erkennbaren Elitenwechsel. Der neue Stadtvorstand wurde nun durch den Mittelstand dominiert, nicht mehr aus der solventen Oberschicht. Allerdings: Dieses neu herrschende Stadtbürgertum - und darin unterschied es sich keineswegs von den alten Eliten - versuchte ebenfalls, den Zuzug weiterer Neubürger zu begrenzen - und opponierte ebenfalls gegen den Landesherrn. Hierin zeigt sich so etwas wie ein überzeitlicher ständiger Gegensatz zwischen Stadt und Landesherrschaft. Im Übrigen trug die Auseinandersetzung mit dem Landesherrn mit dazu bei, die städtischen Eliten zusammenzuschweißen und innere Konflikte zu minimieren. Dies war auch notwendig, denn der Zusammenhalt der verschiedenen Gruppen war eher gering; die Vereinskultur blieb weitgehend unterentwickelt. Allein im lokalen Gewerbe- und dem Naturkundeverein kam ein länger andauerndes und möglicherweise vergesellschaftend wirkendes Vereinsleben zustande.

Nach der Revolution von 1848 wurde - bedingt durch die Politik der nassauischen Regierung - die während der Revolution vertiefte Spaltung zwischen Konstitutionellen und Demokraten in der Bürgerschaft wieder überwunden. Die wirtschaftsfeindliche Politik der nassauischen Regierung in der Restaurationszeit war wiederum der entscheidende Motor für diese Einigung. Der liberal beherrschte Gemeinderat, dominiert vom Wirtschaftsbürgertum, versuchte in dieser Zeit, im Konflikt mit den politischen Zielsetzungen der Regierung seine wirtschaftsbürgerlichen Positionen zu befestigen. Die kompromisslose Haltung des Herzogs in allen Fragen einer politischen Liberalisierung und die Ablehnung des von den Wiesbadener Bürgern mehrheitlich gewünschten Zollvereins reichten aus, die Machtträger der Stadt zu einen.

Auch nach der Annexion Wiesbadens durch Preußen begünstigte das Wahlrecht die Herrschaft der gewerbetreibenden Alteingesessenen (S. 349). Mit der Einführung eines neuen Stadtrechtes jedoch, das die Bürger- zur Einwohnergemeinde machte und die Zahl der Wahlberechtigten deutlich ausweitete, kam es bald zu einem dramatischen Wandel in der innerstädtischen Machtstruktur. Der bis dahin dominierende Freisinn (der die Alteingesessenen repräsentierte) geriet in die Minderheit gegenüber einer Koalition von zugezogenen Rentiers (die bis dahin kaum an den kommunalen Wahlen hatten teilnehmen können) mit dem Oberbürgermeister.

Das „eigentliche Geld" der Millionärsstadt besaß nun auch den adäquaten politischen Einfluss. Die wirtschaftlichen Wurzeln der meisten dieser Rentiers lagen jedoch nicht in der Kommune und ihrer wirtschaftlichen Prosperität, sondern beruhten auf bereits erworbenem Vermögen, dessen Rendite in Wiesbaden verzehrt wurde. Der Wohlstand war also durchaus unabhängig vom Schicksal der Stadt Wiesbaden. Bürgerliche Politik im Sinne von vorwärtsweisenden und dynamischen Perspektiven in der eigenen Gemeinde gerieten fortab gegenüber einem von starken Gruppeninteressen getragenen Handeln in den Hintergrund. Von einer stadtbürgerlichen Politik - so Weichel - konnte man seit der Jahrhundertwende daher kaum noch sprechen.

Dass es sich bei der Arbeit von Weichel um eine sehr faktenreiche, sorgfältige und detaillierte Studie handelt, kann nicht bestritten werden. Ihre innere Konsistenz lässt jedoch oftmals zu wünschen übrig; in Manchem wirkt vieles aneinandergehängt, nicht stringent aufeinander bezogen. Zudem ist zweierlei anzumerken. Zum einen scheint die Stadt Wiesbaden - was ihre soziale Schichtung und ihre städtische Politik anbetrifft - ein Sonderfall gewesen zu sein. Die Stadt der reichen Rentiers findet kaum ihresgleichen im Deutschen Reich. Bürgerliche Identität und eine bürgerliche Gesellschaft hat sich deswegen - wenn überhaupt - nur auf eine sehr eigene Art ausbilden können und Kontinuitäten sind besonders schwer zu belegen. Der darauf abzielende Versuch muss daher manchmal ein wenig quälend wirken.

Wichtig ist jedoch vor allem, dass die Arbeit kaum danach fragt, worum es sich denn bei den Bürgern von Wiesbaden handelte, durch welche Eigenschaften - außer, dass sie in bestimmten Gremien dominierten und viele von ihnen besonders reich waren - und durch welche Gemeinsamkeiten sie sich auszeichneten. Es wird nicht im einzelnen deutlich, wie die Inklusions- oder Exklusionsmechanismen tatsächlich verliefen. Wenn man es überpointiert ausdrücken will: Thomas Weichels gehaltvolle Studie ist alles mögliche, nur kein Beitrag zur neueren Bürgertumsforschung.

II

Die Studie von Ralf Roth setzt sich mit dem besonderen Weg Frankfurts in die moderne Bürgergesellschaft des 20. Jahrhunderts auseinander. Der Sonderwege gibt es also viele, denn auch München wird sich noch als ein solcher herausstellen. Die über 800 Seiten starke Arbeit gliedert sich in drei Abschnitte. Sie beginnt mit dem „Aufbruch aus der ständischen Welt", sieht die Stadt dann als „Experimentierfeld der bürgerlichen Gesellschaft", um sich schließlich mit Frankfurt als einer preußischen Stadt „mit besonderer politischer Kultur" auseinanderzusetzen. Der Umfang und die Breite der Studie, die trotz einer Reihe von hervorragenden Arbeiten zu Frankfurt in vielem Neuland betritt, müssen dem Leser - dies sei gleich zu Anfang erwähnt - deutlichen Respekt abnötigen. Auch wenn das umfangreiche Datenmaterial, mit dem Roth arbeitet, zentral aufbereitet wurde und von ihm nicht mühselig selbst programmiert werden musste: Wer nur einmal versucht hat, die Politik einer größeren Kommune über dreißig Jahre hinweg angemessen darzustellen, weiß, was Roth geleistet hat.

Ein erster wichtiger Aspekt, der von Roth beleuchtet wird, ist das Bürgerrecht in Frankfurt. Er zeigt dessen Vielgestaltigkeit und arbeitet heraus, dass in der frühen Phase Frankfurts noch stark hierarchische Strukturen die alte ständische Gesellschaft prägten. Roth geht - nach einer ausführlichen Diskussion der Errechnungsmaßstäbe - von einem Anteil von etwa 50 Prozent Bürgern an der städtischen Bevölkerung aus. Die Masse der Bürger waren Kaufleute und Handwerker. Sie allein stellten bereits drei Viertel der Bürgerschaft.

Allerdings besaßen nicht alle diese Bürger auch die gleichen bürgerlichen Rechte. Zudem ist zu bemerken, dass der Anteil der Bürger im Jahre 1871 auf einen Tiefstand von knapp 30 Prozent fiel: Das neueingeführte Zensuswahlrecht ließ einen Großteil von Gesellen und Arbeitern aus der kommunalen Mitwirkung herausfallen. Besonders hervorzuheben ist daher, dass sich Roths Blick zu keinem Zeitpunkt nur auf die „bürgerliche Schicht" verengt, sondern dass er immer auch die unterbürgerlichen Schichten mit in seine Untersuchungen und Überlegungen einbezieht.

Interessant - und später auch für die Geschichte des Frankfurter Liberalismus als einer konfessionsübergreifenden Bewegung von erheblicher Bedeutung - ist die Tatsache, dass mit den Dahlbergschen Reformen aus dem Jahre 1806 auch die Katholiken in den Genuss der politischen Rechte gelangten - nicht aber die jüdische Bevölkerung. Im Gegenteil: Für sie wurden die Reformen sogar rückgängig gemacht. So freiheitlich, liberal und vor allem dynamisch, wie Roth ein wenig suggeriert, war Frankfurt zu Beginn des 19. Jahrhunderts offensichtlich doch (noch) nicht.

Nach der Auflösung des alten Reiches geschah - nach Roth - etwas, was man als Prozess der „Verbürgerlichung der Bürger" bezeichnen könnte. Das sich entwickelnde Vereinswesen war hierbei vor allem der Motor. In intensiver Kleinarbeit hat Roth eine Fülle von Vereinen entdeckt und untersucht, die diesem Prozess dienten und ihn beschleunigten. Mitte der Zwanzigerjahre existierten bereits 20 solcher Vereine, zwanzig Jahre später waren es dann schon doppelt so viele. Sie alle waren „Ausdruck für die kulturelle Öffnung des Stadtbürgertums, für seine Aufgeschlossenheit gegenüber Kunst, Kultur und Wissenschaft" (S. 324). Neben dem Elitenverein des Casinos gab es etwa noch die Museumsgesellschaft, die Polytechnische Gesellschaft, den Gewerbeverein sowie Kunstverein, Landwirtschaftlichen Verein und den Ruderclub Germania - um nur einige wenige zu nennen. Die durchdringende Untersuchung des Vereins- und Stiftungswesens ist sicherlich eine besonder Stärke der Studie Roths. Wieweit diese Entwicklung nun - wie Roh betont - eine Frankfurter Spezialität war oder ob nicht der Frankfurter Mikrokosmos in vielem paradigmatisch für die Entwicklung auch in anderen Städten war, sei dahingestellt.

Überraschend und bisher in dieser Deutlichkeit sicherlich neu sind die Bemerkungen zum „liberalen Milieu". Der Frankfurter Liberalismus verfügte nicht nur durch seine Vereine in den städtischen Gremien über einen Strukturzusammenhang, der die Einheit in der Vielfalt bewahrte und politische Spaltungen vermeiden half. Das war auf der Reichsebene zwar ganz anders, in den Kommunen des Deutschen Reiches jedoch eher die Regel. Hervorstechend für Frankfurt war vielmehr, dass es dem Liberalismus gelang, die katholischen, die reformierten und auch die jüdischen Minderheiten zu integrieren. Frankfurter Liberalismus war - so Roth - auch ein katholischer Liberalismus, wie man mit Erstaunen zur Kenntnis nehmen muss. „Der überkonfessionelle Zusammenhang der Frankfurter Liberalen bewährte sich [zudem] besonders in Krisenzeiten" (S. 530). Er bewährte sich etwa im Kulturkampf, der in Frankfurt in aller Stille und mit unterdurchschnittlicher Schärfe verlief: Dort „überwogen die gemeinsamen Erfahrungen in jahrzehntelanger Reformpolitik und die ablehnende Haltung gegenüber Preußen auch in den folgenden Jahren die fundamentalistischen Abgrenzungs- und Ausgrenzungsversuche" (ebenda).

Wieweit man allerdings das liberale Milieu, das in Frankfurt in der Tat eine breite Palette von sozialen Gruppen vereinte, kleine Gewerbetreibende und Bildungsbürgertum umschloss und den Konservativen Gruppierungen kaum Luft zum atmen ließ (die Mitgliederzahl des Konservativen Vereins sank beispielsweise von 1882 220 Mitgliedern auf 1893 nur noch 96 Anhänger) als Kernstück des Bürgertums fassen kann, bleibt dennoch fraglich. Liberalismus und Bürgertum, wie sehr man die Liberalen auch als bürgerliche Partei bezeichnen kann, deckten sich denn doch nicht vollständig. Liberale Parteizugehörigkeit war im Kaiserreich nur einer von verschiedenen Faktoren, die den Bürger ausmachen konnten, aber nicht zwingend ausmachen mussten.

Trotz der Betonung der Kontinuität in Frankfurts Entwicklung wird man nicht umhin können, das Jahr 1866 und die Annexion durch Preußen auch als einen wichtigen Schnitt, wenn nicht gar als gewissen Bruch zu kennzeichnen. Deutlich tritt dieser Bruch etwa auf dem Gebiet der Verfassung hervor. Zwischen 1864 und 1867 verloren mehr als ein Drittel der Bürgerschaft ihre Partizipations- und Mitspracherechte. Übrig blieben die Kernschichten des „Bürgertums": die Wohlhabenden, die Kaufleute und die Bankiers, dazu auch einige Handwerker. Das Ergebnis dieser einschneidenden Veränderung war eindeutig: Die Exklusionsmechanismen dieser Führungsschichten nach unten setzten sich jetzt massiver durch als zuvor. Trotz alledem: Massiv verteidigt Roth seine These von der Kontinuität der Frankfurter Entwicklung und betont dabei immer wieder den sozial übergreifenden Konsensus, der diese rechtlichen Vorgaben in hohem Maße konterkariere.

Unter diesen Gesichtspunkten ist auch die provokante Beschreibung der Zeit seit der Jahrhundertwende als „Zentrum eines Bündnisses von Bürgern und Arbeitern" (S. 624) zu verstehen. Zweifellos zeigt Roth an vielen Beispielen, wieweit der politische Liberalismus auf die Wünsche der Arbeiter einging und in welchem Maße er die „soziale Frage" auch zu der seinen machte. Richtig ist auch, dass hierbei massive politische Interessen eine Rolle spielten, nämlich der schwindende gesellschaftspolitische Einfluss des Liberalismus. Zutreffend ist auch, dass das „Auseinanderdriften der proletarischen und bürgerlichen Lebenswelt" (S. 656) in Frankfurt zeitweilig gestoppt werden konnte. Das alles kann aber nicht verdecken, dass auf dem Wege zur politischen Gleichberechtigung gerade in der Kommune Frankfurt noch ein weiter Weg zu gehen war - und dass es gerade die Liberalen waren, die den Weg der politischen Partizipation der Unterschichten massiv behinderten - auch in Frankfurt.

Insgesamt hat Ralf Roth jedoch eine Studie vorgelegt, die positive Maßstäbe gesetzt hat - vielleicht aber auch einige negative: Denn zu fragen ist doch wohl auch: Kann ein solches umfassendes Werk der Maßstab für zukünftige Dissertationen sein? Wer soll noch diese Kraft und diese (lange) Zeit investieren können - und dann möglicherweise noch als „Einzelkämpfer"? Welchen Arbeitsaufwand soll man von zukünftigen Habilitationen erwarten?

Zudem: Die Gretchenfrage, was denn nun das Bürgertum sei, hat auch Roth nicht direkt, sondern eher indirekt und ohne theoretische Untermauerung in Angriff genommen. Das ist ihm methodisch vorzuwerfen. Eine Anmerkung zum Schluss: Natürlich ist es geradezu vermessen, bei einer solchen umfänglichen Studie auf etwaige Defizite hinweisen zu wollen. Aber: Über die Rolle des Schulwesens und seine Bedeutung für die Verbürgerlichung innerhalb der Stadt Frankfurt hätte man doch gern noch einiges mehr gewusst.

III

Im Gegensatz zu der ehemaligen freien Reichsstadt Frankfurt untersucht Ralf Zerback die bayerische Residenzstadt München. Er nimmt damit eine Stadt ins Visier, die vor allem durch die katholische Konfession geprägt wurde und in der Beamtenschaft, Militärs und Geistliche, aber auch die Wissenschaft eine besondere Bedeutung hatten. Zweifellos konnte sich in diesem Rahmen nur ein Bürgertum einer ganz eigenen Prägung entwickeln.

Zerback gliedert sein Thema in neun Abschnitte: Er beginnt mit der frühen Phase der „Beschleunigung der Zeit 1770-1800", beschreibt das „Bürgertum im Umbruch" und geht dann zur „Formierung bürgerlicher Eliten im Vormärz" über. Es folgen Abschnitte über den „Kampf um die Bürgergemeinde", das „städtische Bürgerrrecht im Vormärz", die „wirtschaftliche Lage und die Politik der Solidarprotektion" und die gesellschaftliche Neuformierung des Bürgertums im Vereinswesen bis 1848. Die beiden letzten Teile befassen sich mit „Bündnisse[n] und Brüche[n]" und den stadtbürgerlichen „Entwicklungslinien 1850-1870".

Die Beschränkung auf die Zeit vor Gründung des Deutschen Reiches macht es für den Autor leichter, deutliche Kontinuitäten in der Entwicklung der Stadt nachzuweisen. Gerade die Zeit zwischen 1870 und dem Kriegsausbruch, die für die Studien über Wiesbaden und Frankfurt nur schwer in das Kontinuitätskonzept zu integrieren waren, werden in Zerbacks Studie mithin ausgeklammert. Diese nicht aus sich selbst heraus verständliche zeitliche Begrenzung wird jedoch nicht theoretisch-methodisch begründet, sondern eher forschungspraktisch: Die Zeit sei bereits hinreichend erforscht (S. 23), eine weitere Aufarbeitung daher nicht mehr so wichtig. Die Folge dieser Selbstbeschränkung bedeutet aber auch, dass die zentrale Frage nach der Kontinuität des Bürgertums bis 1914 auf diese Art nur sehr partiell beantwortet werden kann.

Bereits für den ersten Abschnitt ergibt sich die Problematik, dass das alte Stadtbürgertum in München, das nach den Thesen von Zerback eigentlich ein Mitgestalter des Fortschritts gewesen sein müsste, in der Phase bis 1817 einen eher bremsenden Faktor gegenüber der Politik des Kurfürsten Karl Theodor darstellte. Diese Problematik versucht der Autor dadurch zu entschärfen, dass er darauf hinweist, man müsse den Maßstab für „Modernität" erst einmal deutlich machen. Im Falle Münchens habe nämlich ein Widerstand der Stadtbürger vor allem gegen solche „modernisierenden" Maßnahmen stattgefunden, mit denen die Autonomie der städtischen Gemeinde betroffen worden sei: „Ein stadtbürgeriicher Widerstand etwa gegen die Gesellschaftsgründungen des Weinwirts Albert oder gegen die Investitionen des Kammachers Duisberg ist nicht auszumachen" (S. 79). Auf diese Weise gelingt es Zerback, die Politik der Stadtbürger ins „Positive" umzudeuten.

In der Tat stand in der Ära Montgelas (1799-1817) mit der Beseitigung der Patriziatsherrschaft die Existenz des Stadtbürgertums selber in Frage. Bürgerrecht, Stadtautonomie, die Institution der Zünfte u.a. waren stark gefährdet. Dagegen vor allem, so kann Zerback sehr schön verdeutlichen, formierte sich der städtische Widerstand. Dies könne man - zumindest aus Sicht des Stadtbürgertums - also auch nicht modernitätshemmend nennen. Dank dieses „modernen" Widerstandes scheiterte der Versuch der bayerischen Reformer, die alte Wirtschafts-, Gesellschafts- und Gemeindeordnung „modern" (in ihrem Sinne) umzugestalten. Über den Kopf der Bürger Münchens hinweg war dieser Weg offensichtlich zum Scheitern verurteilt.

Was die Träger des Bürgertums in dieser Zeit angeht, wird das Dilemma des Forschungsansatzes von Zerback ebenfalls deutlich: Wohl kann er für die wirtschaftlichen und politischen Spitzenpositionen einigermaßen präzise Aussagen machen und relativ große gegenseitige Übereinstimmungen feststellen. Das Vereinswesen gibt jedoch für eine Beschreibung des Bürgertums wenig her: „Ein stadtbürgerlicher Eliteverein existiert nicht" (S. 132). Zerbacks Folgerung: Das Bürgertum wird über die Teilhabe an politischen Positionen definiert, wobei Vereinsmitgliedschaften und wirtschaftliche Positionen ergänzend genutzt werden. Damit ist das „genehme" Bürgertum gewissermaßen passend definiert.

Deutlich arbeitet Zerback in seinen mittleren Kapiteln die Bedeutung des Vormärz als Schlüsselphase für das Bürgertum heraus. Zum einen kreuzten sich hier traditionelle und moderne Strukturelemente, zum anderen wird das Bürgertum auf allen nur denkbaren Handlungsfeldern - Politik, Wirtschaft und Kultur (Vereinswesen) - in besonderem Maße aktiv. Wenn überhaupt, lässt sich in dieser Phase eine Einheit des Bürgertums konstatieren - trotz erheblicher ökonomischer Differenzen innerhalb dieser Gruppierung. Wichtig ist, dass das Münchner Bürgertum - und damit meint Zerback das Stadtbürgertum - offensichtlich die Fähigkeit auszeichnete, moderne Anforderungen mit alten Vorstellungen zu verbinden. Diesen Weg beurteilt Zerback als die bessere Alternative gegenüber dem Weg der staatlichen Beamtenschaft.

In der Revolution kooperierte das Stadtbürgertum mit den unterbürgerlichen Schichten. Die ersten Erfolge der Revolution entsprachen den stadtbürgerlichen Wünschen. Erst im weiteren Verlauf der Revolution distanzierte sich die Mehrheit des Stadtbürgertums von den Revolutionären - eine Minderheit allerdings ging diesen Weg nicht mit. Obwohl Zerback konstatiert, dass sich das kleingewerbliche Bürgertum seit 1848 im „Allgemeinen Gewerbeverein" organisierte und für die nächsten Jahrzehnte die Gemeindepolitik in konservative Bahnen lenkte, während sich großbürgerliche Kreise „in den sechziger Jahren mit außerstadtbürgerlichen Kräften zu den liberalen Gruppierungen zusammenschließen" (S. 260), sieht er darin keine Gefahr für den inneren Zusammenhalt des Stadtbürgertums. Legalisiert sieht Zerback die Mehrheitspolitik durch die Willensbildung von unten. Trotz aller inneren Auseinandersetzungen schließt Zerback seine Studie mit der These: „Die Münchner Bürgerschaft ging als eine gespaltene Formation, aber mit einem Potential zur Einheit in die Ära des Kaiserreichs" (S. 299).

Zweifellos haben wir es bei diesem Münchner „Bürgertum" mit einer eher konservativen Variante zu tun. Wieweit es ihr gelang, „moderne Anliegen" zu verwirklichen - wie der Klappentext verheißt - sei dahingestellt. Von bürgerlicher Dynamik und Modernität, die einem beim Begriff der „Bürgerlichkeit" vorschweben, findet man in München jedenfalls nur wenig.

Gerade in Zerbacks Studie wird sehr deutlich, was ein Vorteil - aber zugleich auch ein gravierender Nachteil - des „Gallschen Projektes" ist: Die einheitlichen Fragestellungen, der gleiche oder doch zumindest ähnliche Argumentationsstrang, die gleichen Grundprämissen, ein ähnlich aufbereitetes Datenmaterial, alles dies gibt allen Arbeiten eine gut nachzuvollziehende Struktur, macht Studien und Ergebnisse gut vergleichbar. Die Gemeinsamkeiten stellen aber zugleich auch ein Korsett dar, das gerade im Falle Münchens manchmal wie ein Zwangskorsett wirkt. Um jeden Preis soll die Bedeutung des Stadtbürgertums für die moderne „bürgerliche Gesellschaft" des 19. Jahrhunderts herausgearbeitet werden. Diskontinuitäten - die nicht verschwiegen werden, das sei betont - werden dabei jedoch häufig sehr einlinear gedeutet, manchmal wohl auch unterbewertet. Man kann nicht umhin, festzustellen: Im Falle Münchens hätte eine offenere Fragestellung der Studie sicherlich gut getan. Manche Interpretation hätte weniger „gequält" gewirkt, der Gedankengang hätte sich vielleicht auch innovativer entfalten können.

IV

Ein Wort zuletzt zu den Leistungen der Autoren. In allen Fällen handelt es sich - dies sei trotz der partiellen Kritik festgestellt - um hervorragende Dissertationen, die einen deutlichen Erkenntnisgwinn bringen. Wieweit das für die Ergebnisse der Bürgertumsforschung und vor allem für den Nachweis der inneren Kohärenz dieses schwierigen sozialen und kulturellen Ensembles von Bedeutung ist, sei dahingestellt. Das aber liegt weniger an den einzelnen Studien als an der Gesamtkonzeption des Projektes. Immerhin: Handfeste Ergebnisse, an denen niemand vorbei kann, der sich mit der Bürgertumsforschung im 19. Jahrhundert beschäftigt, liegen mit diesen drei Studien vor. Das sei noch einmal hervorgehoben. Schließlich sei den Autoren auch dafür gratuliert, dass sie dies erreicht haben, obwohl sie sich dem Korsett der allgemeinen Vorgaben aus dem Projekt so diszipliniert unterworfen haben. Ganz ohne inneres Zähneknirschen wird dies aber wohl sicherlich nicht in jedem Fall abgegangen sein.

Karl Heinrich Pohl, Kiel



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