Archiv für Sozialgeschichte. - Online-Rezensionen : Online bookreviews . - Vol 40. 2000

Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Richard H. Steckel/Roderick Floud (Hrsg.), Health and Welfare during Industrialization, The University of Chicago Press, Chicago 1997, 480 S., Ln., 72 $.

Die Debatte um die Verelendung der arbeitenden Klassen in der britischen industriellen Revolution gehört zu den bedeutendsten und am längsten andauernden in der modernen Wirtschaftsgeschichte. Für andere Regionen hat das Thema bisher weniger Interesse gefunden. Die Gründe dafür liegen nicht nur im besonders starken Niedergang des Lebensstandards auf den britischen Inseln und in der Tatsache, dass die britische häufig als die "klassische" industrielle Revolution gewertet wird, sondern auch darin, dass der Vorgang eine Hauptrolle in der Argumentation von Marx’ „Kapital" spielt.

Die Statistiken über die Entwicklung der Reallöhne im Zeitraum von ca.1770 bis 1850 schienen auf den ersten Blick den Standpunkt der "Optimisten" zu unterstützen, dass die Industrialisierung von einer Verbesserung des Lebensstandards der Arbeiterschaft begleitet war. Die "Pessimisten" sahen sich daher genötigt, auf andere Indikatoren zurückzugreifen, um eine Verschlechterung der Lebensumstände zu beweisen, darunter gedrängtes Wohnen, Umweltverschmutzung, stärkere Anfälligkeit für Krankheiten und schlechtere Qualität der Nahrungsmittel in den Industriestädten, ungesunde Arbeitsbedingungen in den Fabriken und ähnliches mehr. An sich durchaus plausibel, mangelte es den Argumenten jedoch an quantifizierbaren Belegen. In den letzten zwei Jahrzehnten sind nun zwei standardisierte objektive Maßstäbe für die Lebensbedingungen der ärmeren Bevölkerung in Gebrauch gekommen, die sich auch auf die Zeiten der Industrialisierung anwenden lassen. Sie sind deswegen wertvoll, weil vielerorts gut fundierte zahlenmäßige Quellen als Unterlagen zur Verfügung stehen. Einer der Maßstäbe ist der von den Vereinten Nationen eingeführte "menschliche Entwicklungsindex" (human development index: HDI), eine standardisierte Kombination von drei Parametern: das Pro-Kopf Einkommen, die Analphabetenquote und die Lebenserwartung.

Der zweite Maßstab ist die durchschnittliche Körpergröße der relevanten Bevölkerungsgruppen. Als Quellen dienen hierzu militärische Musterungsdaten, daneben auch Größenmaße von Sträflingen (die auch Daten für Frauen enthalten), von Sklaven, Schulkindern, und anderen. In der Annahme, dass alle Menschengruppen (vielleicht mit Ausnahme der Ostasiaten) die gleiche Durchschnittsgröße erreichen können, lassen sich Abweichungen durch unzulängliche Nahrung, Überarbeitung oder Krankheit, also Aspekte negativer Lebensbedingungen, erklären. In der Forschung zum Maßstab der Körpergröße haben beide Herausgeber des Bandes eine führende Rolle gespielt; die hier veröffentlichten Studien machen weitgehend von beiden genannten Methoden Gebrauch.

Neben einer Einleitung der Herausgeber, die einen Überblick über die neuen Messmethoden geben, einem Aufsatz von Stanley Engerman zur Theorie und Praxis der Messungen und einem Nachwort der Herausgeber, in dem der Versuch gemacht wird, die einzelnen Länderdaten in vergleichenden Tabellen zusammenzufassen, werden die Lebensbedingungen in acht Ländern zur Zeit ihrer Industrialisierung und in den darauffolgenden Jahrzehnten behandelt. Für die USA betonen Steckel und Dora L. Costa in ihrem Beitrag insbesondere den auffallenden Rückgang der Körpergröße zwischen 1830 und 1890. Der gleichzeitige Rückgang der Lebenserwartung verstärkt den Eindruck eines fallenden Lebensstandards während der Industrialisierungsperiode, wobei allerdings festzuhalten ist, dass Amerikaner in der Zeit generell größer wurden als Europäer. Aufgrund des positiven Wachstums des Pro-Kopf Einkommens und der Lese- und Schreibkenntnisse, was den negativen Gesundheitsstatistiken entgegenwirkt, weist der HDI insgesamt nur eine kaum merkbare Stagnation zwischen 1830 und 1850 auf. Nach 1890 zeigen alle Indikatoren, wie auch anderswo, eine ununterbrochen steigende Tendenz.

Großbritannien wird in zwei Kapiteln behandelt: die Gesamtbevölkerung in den Jahren 1700-1980 (Floud und Bemard Harns) und Frauen allein 1785-1920 (Paul Johnson und Stephen Nicholas). Nach einer vorhergehenden Verbesserung, verschlechterten sich die britischen Sterblichkeitsziffern etwa zwischen 1830 und 1870, auch verringerte sich die Körpergröße der im zweiten Viertel des Jahrhunderts geborenen Männer. Bei Frauen trifft dies auf die ganze Periode der Geburtenjahrgänge 1815-1855 zu. Iren und Landarbeiter waren größer als städtische Arbeiter. All dies kann als Anzeichen eines Niedergangs der Lebensverhältnisse gewertet werden. Nach 1870 steigen auch hier alle Indikatoren ununterbrochen an, allerdings mit frappierenden Klassenunterschieden in Bezug auf Lebenserwartung, Gesundheit und Körpergröße.

Schwedische Einkommen (Lars Sandberg und Steckel) fielen zwischen 1830 und 1850, möglicherweise aufgrund des starken Bevölkerungsanstiegs. In der relativ späten Industrialisierung trug die weiter entwickelte Technik und öffentliche Hygiene dazu bei, die sozialen Kosten niedrig zu halten. Auch Frankreich (David R. Weir) vermied die schlimmsten sozialen Folgen der Industrialisierung - u. a. dank des langsamen Bevölkerungswachstums. Die Körpergröße von Japanern (Gail Honda) lag in absoluten Zahlen weit unter der von Europäern, war aber im steten Wachstum begriffen. Abgesehen von der schlechten Versorgung in den 1930er Kriegsjahren, stiegen alle Indices bis 1940 an. Württemberg (Sophia Twarog) erlitt in den 1840er Jahren einen Einbruch im Einkommenstrend. Es folgte ein schwaches Wachstum bis 1890, mit zeitweiligem Rückgang der Einkommen wie der Körperhöhe in den Krisenjahren der Gründerzeit. Nachher verzeichnete das Land einen starken Aufstieg des HDI.

In den Niederlanden (J. W. Drukker und Vincent Tassenaar) gingen Einkommen und Körpergröße zwischen 1830 und 1858, in den Anfängen der Industrialisierung zurück. Im 20. Jahrhundert zählen die Niederländer zusammen mit den Skandinaviern zu den größtgewachsenen Europäern. In Australien schließlich (Greg Whitwell, Christine de Souza und Stephen Nicholas), wo traditionsgemäß die Jahrzehnte von 1860 bis 1890 als das "goldene Zeitalter" beschrieben werden, stellen sich nach den neuen Messungen die 1880er Jahre eher als Stagnationsjahre heraus. Das wirtschaftliche Wachstum begann erst nach 1900 wieder.

Zusammenfassend waren fast überall die Industrialisierungsjahre von einem Verfall, insbesondere der gesundheitlichen Lebensverhältnisse, gemessen an Körperhöhe und Sterblichkeit, begleitet. Dem wirkte das steigende Pro-Kopf- Einkommen und der wachsende Einfluss der Schulbildung mehr oder weniger effektiv entgegen. Waren die ersten Jahrzehnte der industriellen Revolution vorbei, stiegen alle Komponenten des HDI unaufhaltsam an. Viel ist von der Forschung auf diesem Gebiet in den letzten Jahren geleistet worden, nicht zuletzt von den hier vertretenen Autoren selbst. Die außerordentlich gut fundierten Beiträge dieses Bandes sind als Überblick über den jetzigen Stand der Forschung willkommen.

Sidney Pollard +, Sheffield



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