Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Raimund Schäffner, Anarchismus und Literatur in England. Von der Französischen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg, Universitätsverlag C. Winter, Heidelberg 1997, 578 S., geb., 128 DM.

In Bezug auf die etwa zwei Generationen nach 1789 bleibt der Begriff »Anarchismus« eine post-hoc-Etikettierung. Seit dem späten 19. Jahrhundert findet er seinen Bezug - zumindest in Großbritannien - in extremen Randgruppen. Dieses überdurchschnittlich lange Buch behandelt in seinem Kern fiktive bzw. Semi-fiktive Texte der britischen Anarchisten und anderer Autoren, die sich als Vertreter oder Anhänger dieser Strömung der Arbeiterbewegung verstehen lassen. Die Liste der behandelten Autoren reicht von Morris, Blake, Shaw, Carpenter und Orage bis hin zu Percy und Mary Shelly. Seine Methoden sind hauptsächlich literaturgeschichtlich, aber auch politikgeschichtliche und verwandte Aspekte werden diskutiert. Wie Schaffner bekannt sein dürfte, hätte eine solche Unterscheidung Heiterkeit oder gar Verzweiflung unter den von ihm in seinem Buch behandelten Schriftstellerkolleginnen und Kollegen provoziert. Unglücklicherweise verstärkt er dieses Bild in seinem beeindruckenden Literaturverzeichnis, wo die fünfunddreißig Seiten umfassende Sekundärliteratur wiederum in »literatur- und kunstwissenschaftliche Studien« einerseits und »politikwissenschaftliche, (sozial-)historische, soziologische, philosophische etc. Studien« andererseits unterteilt wird. Sollte der unterzeichnete Kritiker als Maßstab standhalten können, wird diese Teilung extreme Frustration unter Experten des Literatentums auslösen.

Als Stärken des Buches lassen sich daher Vielfalt und - unter Berücksichtigung der noch folgenden Ausnahmen - die Auflistung umfangreicher Fachliteratur aufzeigen. Wo sonst z. B. wird der konservative W. H. Mallock innerhalb weniger hundert Seiten neben »free-love«-Strömungen diskutiert? Diese Stärken sind allerdings gleichzeitig auch Schwächen. Enzyklopädischer Standard ist auf Kosten der Lesbarkeit ein angesteuertes Ziel, bisweilen selbst innerhalb eines Absatzes. Die oben erwähnte vorherrschende geschichtliche Dimension behindert durch die Häufigkeit bisher unerklärter Andeutungen den Lernprozess. Schäffner versucht zu Recht, eine überwiegend thematische Struktur zu verfolgen; zu diesem Zweck hat er vermutlich eine thematische Kartei benutzt. Doch dem Endprodukt merkt man diese Vorgehensweise allzu deutlich an. Darüber hinaus reduziert der Autor seine Leserinnen und Leser auf eine Abhängigkeit von dieser Kartei, indem er zwar mit einem ausgezeichneten Personenregister aufwartet, jedoch nicht mit einem Index für z. B. Begrifflichkeiten, Organisationen, Bewegungen o. ä.

Man wähle eine Seite nach dem Zufallsprinzip: So stellt der Autor auf S. 40 die Labour Churches und die Independent Labour Party als »Ausdruck gesellschaftlicher und politischer Resignation« gleich mit »Theosophie, Okkultismus, Esoterik, Spiritualismus, Kosmologie, Astrologie, östlicher Philosophie und westlichem Mystizismus«. Manche Leserinnen und Leser würden dies als deutsch bzw. S. P. D.-zentriertes Missverständnis der Geschichte der britischen working-class von den 1840er Jahren bis weit ins 20. Jahrhundert interpretieren. (Der Unterzeichnete erinnert sich an die Wahlkampfveranstaltung anläßlich der General Election im Jahre 1964 in dem überfüllten Rathaus von Cambridge, auf der das Wahlkampfpublikum mit stetig wachsendem Optimismus das Lied »England Arise« von Carpenter darbot: von »Resignation« - außer die der Orgelbegleitung - keine Spur!). Wohlgesinnte Leserinnen und Leser werden Bedauern äußern, dass Schaffner sich von seiner Kartei hat verschlucken lassen. Er hätte Recht gehabt (eine detaillierte Differenzierung sei hier vorausgesetzt), dass die o. g. Formen des Idealismus Einfluss ausübten, und zwar nicht nur auf viele Individuen der Arbeiterschicht (sehr viele im Falle des Spiritualismus), sondern auch solche in der I.L.P. , in den Labour Churches und sogar auch in der marxistischen Social Democratic Federation. Aufgrund Schaffners mangelnder Differenzierung bereitet sich eine solche Leserschaft - vermutlich auch mit einer gewissen »Resignation« - auf faktische Fehltritte vor, die sich intellektuell weniger gesegneten Studierenden zwangsläufig aufdrängen werden, kämen sie denn Mitte des 21. Jahrhunderts in den Genuss von Schäffners Buch. Solchen Studierenden werden die geschichtswissenschaftlichen Seiten wie ein immenses, von riesigen Schwärmen bevölkertes und undurchsichtig beleuchtetes Aquarium vorkommen, in dem hier der eine, dort der andere einzelne Fisch sich plötzlich zeigt, nur um gleich wieder in der Masse zu verschwinden, und nur selten seine Größe oder sein Vorkommen preisgibt, es sei denn, sein Name findet sich im Inhalts- bzw. Personenverzeichnis wieder (wenn es sich denn um eine Person handelt).

Abschließend muss man inmitten dieser höchst »kompetenten« und sich stets auf esoterischer Ebene bewegenden Forschung und Auflistung mit größtem Erstaunen Folgendes feststellen: nämlich dass im Gegensatz zu Labour Leader (angeblich flächendeckend »1893-1922 vom Verfasser gesichtet), Justice (»1884-1925, dito) und anderen politisch links ausgerichteten Zeitschriften der Jahrzehnte um 1900 ausgerechnet die Wochenzeitung, die sowohl für ihre lebendigen und konsequent nach Priorität geordneten literarischen Seiten als auch für die größte Leserschaft bekannt war, nämlich die Clarion, unter den Periodika (S. 534) unbenutzt bleibt. Und dies, obwohl seinem ideologischen Vorbild Robert Blatchford einige und etlichen seiner Mitstreiter (z. B. Shaw, Carpenter) viele Seiten gewidmet sind. Weniger wohlgesinnte Leserinnen und Leser mögen diese Lücke darauf zurückführen, dass die Clarion sehr viel weniger parteigebunden war als ihre zwei Hauptkonkurrentinnen. Von gleicher Bedeutung ist der von Schäffner angedeutete Verfall der Chartistenbewegung und die weitreichende Krise der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts, jedoch ohne Bezug auf die relevanten Bücher von Gareth Stedman Jones, die seit 1982 bzw. 1971 die strukturelle Basis für diesbezügliche Diskussionen darstellen (ihre inhaltliche Richtigkeit sei zu diesem Zweck dahingestellt). Jones' Buch »Outcast London« aus dem Jahre 1971 hätte Schäffners zwölf Seiten über Gissing u. v. a. ohne Zweifel bereichert. Last, not least: Die Frage, ob anarchistische Formen von Männlichkeit auf irgendeine Weise weniger unterdrückend waren als ihre sozialistischen Konkurrenten, bedarf auch weiterhin einer gründlichen Diskussion.

In einem Satz: Der massive Aufwand scheint durch eine geschichtswissenschaftlich undurchsichtige Darstellung nicht gerechtfertigt.

Logie Barrow, Bremen



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