Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Sandra S. Phillips/Mark Haworth-Booth/Carol Squiers, Police Pictures. The Photograph as Evidence, San Francisco Museum of Modern Art, Chronicle Books, San Francisco 1997, 132 S., ca. 100 Abbildungen, geb. 24,95 $.

Martin Gasser/Thomas D. Meier/ Rolf Wolfensberger (Hrsg.), »Wider das Leugnen und Verstellen«. Carl Durheims Fahndungsfotografien von Heimatlosen 1852/53, Offizin Verlag Zürich 1998, 143 S., ca. 80 Abb., geb., 58 Sfr.

Sandra S. Phillips beginnt ihren Beitrag im Katalog »Police Pictures« mit der Feststellung, dass wir Kriminelle bräuchten, um uns auf dieser Folie als »normal« definieren zu können. Fotografie, so die implizierte Aussage, spielt dabei eine hervorragende Rolle. In der Tat ist (kriminal-)polizeiliche Arbeit seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts ohne Hilfe der Kamera kaum vorstellbar. Die Untersuchung der Bilder im Hinblick auf die polizeiliche Praxis und die dahinter stehenden Theorien zu Verbrechen und Verbrechern ist insofern sinnvoll; weil sich dadurch eine neue Perspektive der Forschung eröffnet. Bilder illustrieren nicht nur schriftlich fixierte Theorien und Sachverhalte; sie formen ebenso Vorstellungen, popularisieren sie und wirken auf jene, die sie verwenden und rezipieren zurück. Gerade die Modernisierung und Professionalisierung der Kriminalistik, der Anthropologie, Medizin und Psychiatrie und damit auch der Kriminologie ist eng mit der Anwendung der Fotografie verbunden.

Wahrscheinlich kein Medium hat im 19. Jahrhundert die Wahrnehmungsweisen und Informationslandschaft so verändert wie die Fotografie, seit die ersten praktikablen Verfahren 1839 veröffentlicht wurden. Und doch ist sie von der Geschichtswissenschaft bisher nur sehr stiefmütterlich behandelt worden. Sozial-, kultur- und wirtschaftsgeschichtliche Untersuchungen zur Fotografie sind rar. Zwar liegen Arbeiten zu Einzelthemen vor, in Deutschland insbesondere zur Industriefotografie, aber einen umfassenden Überblick bieten nur die vom Ansatz her inzwischen weitgehend veralteten und primär technik- oder personengeschichtlichen Darstellungen wie z.B. jene Gernsheims, Baiers und Pollacks, die von neueren »Geschichten der Fotografie« bisher nicht haben ersetzt werden können.

Die beiden jüngst erschienen Kataloge zur Polizei- bzw. Fahndungsfotografie bieten einen guten Einstieg in eine neuere Fotogeschichtsschreibung, die das Medium nicht mehr als autonom behandelt, sondern in sozial- und kulturgeschichtliche Zusammenhänge einbettet. Außerdem führen sie auf ein Thema hin, das in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit seitens der Forschung auf sich gezogen hat: die Geschichte von Polizei und Kriminalität im Rahmen einer umfassenden Neuorientierung bezüglich der Geschichte staatlicher Macht- und Zwangsapparate. Dass in diesem Zusammenhang die Rezeption der Arbeiten Michel Foucaults von besonderer Bedeutung ist, braucht nicht gesondert hervorgehoben zu werden, auch wenn Ulrich Brieler in einem Beitrag in »Geschichte und Gesellschaft« vehement eine stärkere Auseinandersetzung der deutschen Geschichtswissenschaft mit Foucault einfordert. [ Ulrich Brieler, Foucaults Geschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 24,1998, S. 248-282. Ähnlich Richard Evans in seinem Forschungsüberblick zur Polizeigeschichte: Richard Evans, Polizei, Politik und Gesellschaft in Deutschland 1700-1933, in: Geschichte und Gesellschaft 22 ,1996, S. 609-628, insb. S. 628.]

Im Rahmen von Untersuchungen zur Polizeifotografie, z.B. bei »Police Pictures«, sind foucault'sche Ansätze explizit und implizit oft Ausgangspunkt der Überlegungen. Dadurch wird jedoch in vielen Fällen zu schnell ein Abstraktionsniveau erreicht, bei dem es dann weniger um die polizeiliche Praxis und Funktion von Fotografie geht, sondern um generelle Aussagen zur Normierungen von normalem und abweichendem Verhalten durch Institutionen wie Gefängnis, Krankenhaus und Irrenanstalt.

Hier haben sich die Herausgeber des Kataloges »Wider das Leugnen und Verstellen ...« zu einer vorsichtigeren Vorgehensweise entschlossen. Exemplarisch wird die Entstehungsgeschichte der »[n]ach heutigem Kenntnisstand [...] weltweit [...] ersten überlieferten [...] Polizeifotografien« (S. 9) nachgezeichnet. Diese besondere Stellung der Sammlung rechtfertigt es auch, rund ein Drittel des 220 Fotografien umfassenden Gesamtbestandes an Fotografien von Heimatlosen als gute Reproduktionen in den Katalogband aufzunehmen. Sozialhistorisch ist zudem der kurze Beitrag von Rolf Wolfensberger interessant, der anhand der Verhörprotokolle in Verbindung mit den Photographien die Lebensweise einer Familie von »Heimatlosen« nachzeichnet. Die biographischen Ausführungen zu dem Berner Fotografen und Lithographen Carl Durheim (1810-1890), der die Bilder aufgenommen hat, tragen dagegen weniger zum Verständnis der vorgestellten Fotografien bei und sind eher eine Auseinandersetzung mit früher fotogeschichtlicher Praxis. Ebenso wichtig wäre ein Beitrag über den Schweizer Generalanwalt Jacob Amiet gewesen, der Durheim mit der Porträtierung der Nichtsesshaften beauftragt hatte.
Die Fahndungsfotografien entstanden zwischen Oktober 1852 und Ende 1853 in Bern. Die Bilder wurden nicht nur bei der Bundesanwaltschaft in Bern archiviert, sondern auch als lithographische Kopien (Abzüge wären damals zu teuer gewesen) an die Kantonspolizeien geschickt. Der Aufwand, den die Schweizer Behörden betrieben, um des Problems »Heimatlosigkeit« Herr zu werden, war also beträchtlich.

Das Frappierende an den Bildern ist wohl, dass sie für sich genommen in keiner Weise auf ihren Entstehungszusammenhang verweisen. In Pose und Inszenierung sind die Porträts kaum von um 1850 gängigen bürgerlichen Porträts zu unterscheiden - einzig die abgerissene Kleidung vieler Abgebildeter verdeutlicht, dass es sich hier nicht um Repräsentationen respektabler Bauern oder Bürger handelt. In ihrer Einleitung kommen die Herausgeber zu dem Schluss, dass die Aufnahmen - neben ihrer Funktion als Fahndungsmittel - »einem in die Zukunft projizierten Bild der gesuchten Personen als bereits Sesshafte« (S. 18) entsprächen. Das Fahndungsbild repräsentierte also zugleich das Wunschbild nach einer statischen Gesellschaft. Auf einer tieferen Ebene werden konkrete Sorgen um die Stabilität der sozialen Ordnung greifbar, die durch die Mobilität einer sozialen Randgruppe bedroht schien. Mit der Photographie als dem damals modernsten technischen Hilfsmittel wurde versucht, ein traditionelles Problem zu lösen, das für den 1848 gründlich reformierten Schweizer Bundesstaat anscheinend von zentraler Bedeutung war. Über ein Versuchsstadium kam diese frühe Schweizer Initiative jedoch nicht hinaus. Über die Gründe äußern sich die Autoren nur unzureichend, obwohl doch schlaglichtartig klar würde, wie unsicher staatliche Behörden Mitte des 19. Jahrhunderts mit neuen Medien umgingen und wie gering ein »wissenschaftlicher« und professioneller Anspruch war. Erst zwanzig Jahre später entstanden in Europa und Nordamerika umfassendere Sammlungen von Fahndungsfotografien.

Diese Lücke füllt »Police Pictures« nur unzureichend aus. Zwar wird die unglaubliche Vielfalt »polizeilicher« Fotografie dargestellt, doch dieser umfassende Anspruch offenbart gleichzeitig die Schwäche des Konzepts, da vieles präsentiert wird, das mit dem Begriff nicht unbedingt in Einklang zu bringen ist wie etwa Luftaufnahmen des amerikanischen Fotografen Harold E. Edgerton von 1944 (S. 116 f.). Neben frühen anthropologischen Aufnahmen werden im Katalogteil Fahndungsfotografien ab etwa 1870, Tatortaufnahmen, Reportagefotos und Dokumentaraufnahmen in durchweg guten Reproduktionen abgebildet. Ein gemeinsamer Nenner lässt sich kaum finden, es sei denn, dass es sich um Bilder von Personen oder Umständen handelt, die als »abweichend« von einer vergangenen »Normalität« galten, bzw. von der Masse der bisher veröffentlichten Fotografien zu unterscheiden sind. So mag die Idee eine Rolle gespielt haben, »Police Picture« als Begriff für fotografische Wiedergabe des Ungewöhnlichen, Abweichenden, Schockierenden oder des sozial Randständigen zu verwenden. Überzeugen kann eine solche Konzeption jedoch nicht.

Der einleitende Aufsatz von Sandra S. Phillips suggeriert eine geradlinige Entwicklung von phrenologischen Experimenten vom Ende des 18. Jahrhunderts bis hin zur Polizeifotografie der Gegenwart. Sie konzentriert sich zudem vornehmlich auf die amerikanische Verbrecherfotografie und versucht die Verbindungen zwischen Kriminologie, Psychiatrie, Medizin und Kunst herauszuarbeiten. So griffig und vordergründig einleuchtend diese Beziehungen dargestellt werden, so kritisch sind aber auch die einzelnen Zusammenhänge zu lesen. Theorien von Kriminalanthropologen wie Cesare Lombroso oder Eugenikem wie Francis Galton waren schon zur Zeit ihrer Formulierung umstritten und können nicht als repräsentativ für den Umgang mit Fotografie zu Polizeizwecken gelten. Gerade die Ambiguität von Fahndungsfotografien wird dadurch unterschätzt und ihr Quellenwert somit reduziert. Ungeachtet der Kritik an einzelnen Aussagen, Verkürzungen und Zuschreibungen bleibt aber wichtig, dass auch bei Phillips ein Umgang mit Fotografie praktiziert wird, der neben den Entstehungsbedingungen und Verwendungszusammenhängen auch das kulturell-soziale Umfeld berücksichtigt.

Die Beiträge von Mark Haworth-Booth über Zusammenhänge zwischen Fotografie und Detektivroman und von Carol Squiers über New Yorker Reportagefotografie der 1930er Jahre über erschossene Gangster verweisen auf die thematischen Möglichkeiten von Fotografiegeschichte. Während Haworth-Booth’ Aufsatz - auf Carlo Ginzburg aufbauend - in der Kultur des Entdeckens und genauen Hinsehens eine Grundprinzip der Moderne ausmacht, analysiert Squiers die Reportagebilder im Hinblick auf ihren symbolischen Gehalt als Zeichen staatlicher Autorität, die durch die öffentliche (d.h. via Pressefotos) Zurschaustellung der Körper toter Gangster die Illusion von sozialer Stabilität und Kontrolle verbreiten wollte.

Es wäre vielleicht sinnvoller gewesen, wenn sich das Herausgebertrio, das auch gleichzeitig die drei Beiträge zum Katalog lieferte, zu größerer thematischer Einheitlichkeit hätte durchringen können. Manchem Leser mag sich nach der Lektüre das Schreckwort von der »Beliebigkeit« neuerer Kulturgeschichte aufdrängen und das kann auch niemandem verübelt werden. Die Aufsätze in »Police Pictures« kämen prinzipiell auch ohne Illustrationen aus. Anders die Schweizer Publikation. Hier wird das Thema durchgearbeitet und die Autoren verbinden Text- und Bildanalyse klar und überzeugend.

Es stellt sich insgesamt die Frage, wie mit den Massen an Fotografien, die in den öffentlichen Sammlungen und Archiven liegen, umzugehen ist. Gesellschaften, in denen mit viel Aufwand Fotografien hergestellt, veröffentlicht und verwahrt werden, messen diesen Bildern offensichtlich einen hohen Wert bei, der ebenso auf soziale Verhältnisse und Strukturen wie kulturelle Praktiken, Traditionen und Traditionsbrüche verweist. Abweichendes bzw. kriminelles Handeln ist selten allein schriftlich fixiert, sondern spätestens seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert auch bildlich festgehalten worden. Diese Bilderwelt bedarf einer ebenso kritischen Analyse durch Historiker wie die textliche Überlieferung; dafür bildet die Publikation »Wider das Verleugnen...« ein gutes Beispiel; der Katalog »Police Pictures« ein eher misslungenes. Beiden ist zu Gute zu halten, bildliches Quellenmaterial zur Verfügung gestellt und möglicherweise Anregungen für weitere Forschungsarbeiten geliefert zu haben.

Jens Jäger, Hamburg



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