Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Carsten Klingemann, Soziologie im Dritten Reich, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 1996, 344 S., brosch., 98 DM.

Carsten Klingemann hat seit Anfang der 1980er Jahre zahlreiche Aufsätze zur Geschichte der Soziologie während der NS-Diktatur präsentiert. Der Titel des vorliegenden Bandes weckt die Erwartung, dass ihnen nunmehr eine systematische Gesamtdarstellung folgt. Doch auch dieses Buch ist wiederum eine Sammlung von - zumeist schon publizierten - Aufsätzen zu ganz unterschiedlichen Themen. Deshalb fehlen leider viele Basisinformationen, die angesichts des Titels eigentlich zu erwarten gewesen wären: etwa Angaben zur Entwicklung der soziologischen Lehrstühle oder zu Vertreibung und Emigration. Stattdessen wird vor allem die Geschichte verschiedener sozialwissenschaftlicher Institute in Köln, Frankfurt, Berlin und Heidelberg sowie die Entwicklung der »Deutschen Gesellschaft für Soziologie« nach 1933 geschildert. Ein längerer Aufsatz behandelt »Sozialwissenschaftler im Einflussbereich Alfred Rosenbergs«. In zwei allgemeiner gehaltenen Beiträgen präsentiert Klingemann »Thesen zur Soziologisierung sozialwissenschaftlicher Fächer und des philosophischen Denkens während des Dritten Reiches« und Ausführungen über »Staatsinterventionismus und sozialwissenschaftliches Denken im Dritten Reich«. Besonders interessant ist ein Essay über »Max Weber in der Reichssoziologie 1933 -1945«. Obwohl Webers Forderung nach Wertfreiheit der Wissenschaft alles andere als zeitgemäß war, wurde er, wie Klingemann zeigt, auch von den Soziologen und Nationalökonomen der NS-Zeit weiterhin als Autorität zitiert. Dies galt nicht nur für Hochschullehrer, die dem Wissenschaftskonzept des Regimes mit Distanz gegenüberstanden, sondern auch für ausgesprochene Nationalsozialisten und sogar für einzelne Parteiführer wie Hans Frank.
Wer in der Publikation nach allgemeineren Aussagen zur Rolle der Soziologie im Nationalsozialismus sucht, wird vor allem auf zwei Thesen stoßen:
Erstens: Eine scharfe Kritik an älteren Auffassungen, nach denen die Soziologie 1933 zerstört wurde, weil sie den Nationalsozialisten als Disziplin ein Dorn im Auge gewesen sei. Die Kritik an dieser noch in den 1980er Jahren verbreiteten Legende ist ohne Zweifel berechtigt und inzwischen wohl allgemein akzeptiert. Eine zweite Hauptthese Klingemanns besagt, im Dritten Reich habe eine »Modernisierung der deutschen Soziologie« stattgefunden. Während die Soziologie in der Weimarer Republik überwiegend theorieorientiert gewesen sei, lasse sich in der NS-Zeit eine »Empirisierung der Sozialforschung« beobachten. Daher habe sich die Soziologie im NS-Staat nicht so sehr durch »weltanschauliche Perversion kompromittiert«, sondern sei als empirisch orientierte Fachwissenschaft dem NS-Staat von Nutzen gewesen.
Es ist in der Tat sinnvoll, in einer solchen Studie Wissenschaftler nicht nur als (potentielle) Ideologieproduzenten zu betrachten, sondern auch als Fachleute, die den Machthabern ihr Expertenwissen zur Verfügung stellten. Ebenso überzeugend ist die These, dass auch während der NS-Diktatur eine »relative Autonomie sozialwissenschaftlicher Arbeit« erhalten blieb (S.22).

Allerdings lässt sich die Frage, wie nützlich die von manchen Soziologen vorgelegten Gutachten, Aufsätze und Bücher wirklich für die nationalsozialistische Politik gewesen sind, nur sehr schwer beantworten. In Ermangelung klarer Belege neigt Klingemann dazu, die Relevanz soziologischer Forschung für den NS-Staat nur zu suggerieren. Ein wirklicher Nachweis, dass soziologische Untersuchungen das politische Handeln des NS-Staates beeinflusst oder gar bestimmt haben, wird kaum jemals erbracht. Vieles spricht jedoch dafür, dass ein erheblicher Teil dessen, was Soziologen in dieser Zeit (wie auch zu anderen Zeiten) produziert haben, rasch vergilbte, ohne irgendwelche politischen Auswirkungen zu haben.
So schildert Klingemann mehrfach die Aktivitäten der »Gesellschaft für europäische Wirtschaftsplanung und Großraumwirtschaft« (149 f. und 303 f.), muss dann aber einräumen, dass Martin Bormann, der Leiter der Parteikanzlei der NSDAP, die Aktivitäten der Gesellschaft für überflüssig erklärte und ihre Auflösung forderte.
Ein anderes Beispiel: Der Hamburger Soziologe Andreas Walther repräsentierte laut Klingemann in idealer Weise jene Soziologie, die über exklusives Spezialwissen verfügt, dessen sich politische Akteure und Administratoren gern bedienen«. Klingemann bezieht sich dabei vor allem auf Walthers Arbeiten zur Untersuchung sanierungsbedürftiger Stadtviertel in Hamburg, die auf »große politische Resonanz gestoßen« seien (S. 167). Davon kann jedoch keine Rede sein. Obwohl Walther sich 1933 geradezu wie ein Musterbeispiel professoraler Selbstgleichschaltung aufführte, blieben seine Vorschläge zur Stadtsanierung weitgehend unbeachtet. Das einzige große Sanierungsprojekt, das in Hamburg während der NS-Zeit stattfand, war bereits weitgehend beendet, als Walther seine Untersuchungen über »gemeinschädigende Regionen« aufnahm.
Es scheint mir fraglich, ob es wirklich sinnvoll ist, von einer »Modernisierung« der Soziologie während der NS-Zeit zu sprechen. Bereits im Kaiserreich gab es eine auf hohem Niveau angesiedelte empirische Sozialforschung (man denke an die Schriften des Vereins für Sozialpolitik), und es ist nicht erkennbar, wo demgegenüber im Dritten Reich eine Modernisierung stattgefunden haben soll.

Michael Grüttner, Berkeley



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