Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Hans-Werner Frohn, Arbeiterbewegungskulturen in Köln 1890 bis 1933, Klartext-Verlag, Essen 1997, 395 S., geb., 78 DM.

Aufbauend auf Pierre Bourdieus Theorie vom distinguierten Habitus als Hauptunterscheidungsmerkmal der (Selbst-)Wahrnehmung sozialer Klassen, unterbreitet Hans-Wemer Frohn die These, dass Distinktionen nicht nur soziale Klassen voneinander trennen, sondern gleichzeitig auch intern fraktionieren. Am Beispiel Kölns in der Wilhelminischen und Weimarer Zeit analysiert der Autor die Existenz von zuerst zwei und später drei klar voneinander abgegrenzten Klassenfraktionen innerhalb der Arbeiterschaft: Er unterscheidet das katholische, das sozialdemokratische und das kornmunistische Arbeitermilieu. Damit liegt nun erstmals eine detaillierte vergleichende Untersuchung der Arbeiterkulturen einer deutschen Großstadt unter Einbeziehung des katholischen Milieus vor, und die Studie löst viel von dem ein, was sie verspricht.

In zehn klar gegliederten Unterkapiteln des Hauptteils untersucht Frohn die gesamte Bandbreite der Kölner Arbeiterbewegungskulturen von der Kinderbewegung über das Gesangswesen bis hin zu den Selbsthilfeorganisationen und den paramilitärischen Verbänden. Und in der Tat wird deutlich, dass es nur in Ausnahmefällen zu gemeinsamen Ausformungen der zwei bzw. drei Arbeiterbewegungskulturen in diesem rheinischen Handels-, Industrie- und Bankenzentrum kam. Generell existierten nebeneinander ebensoviele Kulturorganisationen wie Arbeiterbewegungsmilieus mit oft völlig andersartigen und einander ausschließenden Innenleben und kulturpolitischen Orientierungsrahmen. In manchen Bereichen war mitunter eine Fraktion relativ marginal, wie z.B. die katholische Arbeitersportbewegung, die es schwierig hatte, gegen die ausgeprägte Körperfeindlichkeit der katholischen Hierarchie eine Existenzberechtigung zu erkämpfen. In anderen Bereichen war oft eine der drei Fraktionen sowohl quantitativ als auch qualitativ dominant, wie z.B. das kommunistische Milieu im Bereich der Filmmedien. Insgesamt jedoch kann man durchaus der Frohnschen These der gleichzeitig und separat existierenden distinguierten Arbeiterbewegungsmilieus zustimmen.

Aus diesem Fortbestand deutlich unterschiedlicher Arbeiterbewegungskulturen, die laut Frohn gerade in der Weimarer Zeit ihren Höhepunkt fanden, erklärt sich zumindest teilweise, warum im Untersuchungszeitraum sowohl die Zentrumspartei als auch die Kölner SPD tendenziell an Einfluss verloren. Denn die Kölner SPD war innerhalb der deutschen Sozialdemokratie eine Vorreiterin von Volksparteikonzepten, ebenso wie das gesamtdeutsche Zentrum seit seinen Anfängen im späten 19. Jahrhundert. Und es gibt wohl kaum etwas Widersprüchlicheres als die Unterstützung von distinguierten Arbeitermilieus unter den Bedingungen einer politischen Gesamtorientierung in Richtung klassenübergreifender Volkspartei. Umgekehrt könnte so auch deutlich gemacht werden (was der Autor allerdings versäumt), warum die KPD 1924 und in den letzten Jahren der Republik die SPD in Köln an den Wahlurnen überrunden konnte. In einer auf Abgrenzung ausgerichteten Zeit vermied es einzig und allein die KPD, andere als proletarische Bevölkerungsgruppen in ihre Politikvorstellungen einzubeziehen.

Doch wäre es verfehlt, zu viele Schlussfolgerungen aus der Existenz ideologisch und kulturpolitisch homogener Arbeiterbewegungsmilieus abzuleiten. Denn, wie der Autor immer wieder erwähnt (aber leider nicht konsequent theoretisiert), war selbst die Gesamtheit der Mitglieder aller drei Arbeiterbewegungskulturen immer nur eine Minderheit der Kölner Arbeiterschaft. Die drei spezifischen Milieus setzten sich außerdem „bewußt von der übergroßen Mehrheit ihrer Klassenangehörigen ab, die von den Massenfreizeitangeboten angezogen wurden" (S. 302). So kam es, um nur einige Beispiele zu benennen, dass „keine der drei Frauenorganisationen" es verstand, ihre eigentliche Klientel, die Kölner Arbeiterinnen, in nennenswerter Weise „anzusprechen" (S. 99). „Große Mitgliedererfolge konnte keine der drei Kinderverbände erzielen." (S. 129) Und auch die drei Jugendorganisationen fanden nur „geringe Resonanz" (S. 120) unter Kölner Jugendlichen.

Noch wichtiger als diese relative Einflusslosigkeit erscheinen diesem Leser die in dieser Studie nur unzureichend thematisierten Gegentendenzen zur internen Abschottung der drei Arbeiterbewegungskulturen. So gehörten z.B. dem 1929 gegründeten Bund der katholischen Sozialisten sogar einige Geistliche an, und der Herausgeber der Kölner Roten Blätter der katholischen Sozialisten war ein ehemaliger Funktionär der Düsseldorfer Verbandszentrale der katholischen Jungmännerbewegung, Eine Reihe von Konzerten der sozialdemokratischen Arbeitersängerbewegung fand in den Räumlichkeiten katholischer Vereine statt. Andererseits nahm der Kölner Domorganist Hans Bachern an Oratorienaufführungen der Arbeitersänger teil. Noch frappanter erscheint die Tatsache, dass die ersten Verhandlungen, die zur Gründung von Konsumgenossenschaften im Kölner Raum führten, von Vertretern aller um 1900 existierenden Richtungsgewerkschaften geführt wurden, und nur die Intervention eines auf Spaltung pochenden, extra von auswärts angereisten, freigewerkschaftlichen Funktionärs konnte verhindern, dass die Kölner Konsumgenossenschaftsbewegung gemeinsam von Sozialdemokraten und Katholiken organisiert wurde. Schließlich erwähnt Frohn noch beiläufig Forschungsergebnisse aus anderen Regionen Deutschlands, aus denen klar ersichtlich wird, dass „unterschiedliche Milieuzugehörigkeit" nicht zwangsläufig zu organisatorischen und ideologischen Spannungen innerhalb des Arbeiterklassenmilieus führen musste, „daß selbst bekennende Kommunisten dem Freundeskreis Vorrang vor dem Befolgen der jeweiligen Parteibefehle gaben". Und Frohn schlussfolgert: „Ein ähnliches Verhalten darf auch für Kölner Kommunisten angenommen werden." (S. 297)

Aufschlussreich erscheint auch, dass die drei Arbeiterbewegungsmilieus oft eher mit klassisch bürgerlichen Milieus kooperierten als mit ihren proletarischen Konkurrenten. Daraus kann u.a. erklärt werden, dass keines dieser drei Milieus eine authentische, milieuspezifische Theaterkultur entwickelte. Ahnliche Zustände charakterisierten den Arbeitersport: „Den Funktionären gelang es zusehends weniger, spezifische Arbeitersportakzente zu setzen." (S. 160) Und auch im Bildungsbereich „stand die Breitenbildung unter dem Einfluß bürgerlicher Hegemonie" (S. 89).

Wenn also die drei Arbeiterbewegungskulturen doch nicht so hermetisch voneinander abgeriegelt waren, wenn andererseits der Einfluss bürgerlicher Milieus oft prägend auf sie einwirkte, wenn ihre Ausstrahlung auf das gesamte Kölner Arbeitermilieu nie große Erfolge zeitigte, was bleibt dann von der These des distinguierten Habitus der drei Kölner Arbeiterbewegungsmilieus? Sehr viel, denn trotz aller Abstriche gelang es den drei Milieus immer wieder auch neue, milieuspezifische Ausdrucksformen ihrer Eigentätigkeit zu entwickeln, wie z.B. die sozialistischen Kinderrepubliken, die katholischen Arbeiterwallfahrten, oder den kommunistischen (wenn auch häufig sowjetimportierten) Film. Es ist das Verdienst Hans-Werner Frohns, die Eigenständigkeit der drei Kölner Arbeiterbewegungskulturen aufgezeigt zu haben, ohne die wichtigen Einschränkungen der Eigenständigkeit dieser Milieukulturen zu ignorieren. Hätte der Autor den Gegentendenzen größere Aufmerksamkeit gewidmet, dann hätte seine Arbeit ein wichtiger Beitrag zum Aufstieg und Fall von Arbeiterbewegungskulturen in der Moderne sein können. So wie sie ist, liefert sie wichtiges empirisches Material und so manche Anregung zum besseren Verständnis der Theorie und Praxis proletarischer Kulturen.

Gerd-Rainer Horn, Salem/Oregon



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