Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Das 1994 in Frankreich erschienene Buch der Historikern Annette Becker will nachzeichnen, wie christliche Symbole und Begriffe die Deutung, Verarbeitung und Erinnerung an das Massensterben des Ersten Weltkriegs dominierten und prägten. Becker hat aus ihren fast ausnahmslos publizierten Quellen starke Zitate herausgezogen. Am intensivsten ist das Buch dann auch, wenn die Feiern, die in den ersten Jahren nach dem Kriegsende den Sieg feierten und der Opfer gedachten, beschrieben werden. Da wird dem Leser bewusst, in welchem Maß sich in 80 Jahren die Feiern verändern - selbst in einem Land wie in Frankreich, in dem der Erste Weltkrieg heute noch präsent und bedeutungsvoll für die nationale Verortung ist. Becker kritisiert, dass sich die historische Forschung bislang eher den kirchlichen Institutionen und nicht dem Glauben selbst gewidmet habe. Sie versucht, die „mystique de la front", wie sie die Allgegenwart religiöser Begriffe bezeichnet - zu erklären und kapituliert: „It is this mystique that l wish to account for here. Although difficult to quantify, it is at the very least worthy of description." (S. 6) Nur oder überwiegend Beschreibung reicht eben nicht, wenn sich bei der Lektüre viele Fragen stellen, die unbeantwortet, ja meistens sogar als Desiderat unreflektiert bleiben: Wie kommt es, dass christliche Motive und Begriffe auch in republikanisch und antikirchlich eingestellten Gruppen widerstandslos anerkannt werden, um Tod, Opfer und Trauer darzustellen und zu verarbeiten? Becker bietet oberflächliche Antworten: Der Schock des Kriegserlebens habe zu einer Erneuerung des Glaubens geführt, d.h. zu einer Renaissance der Religion entlehnter Begriffe (S. 1). Diese Worte böten, so ihre These, sofortige Entlastung (S. 3). Vor allem die Hoffnung auf Wiederauferstehung erkläre die Kraft religiöser Symbole (S. 132). Sie deutet an, dass es im 19. und frühen 20. Jahrhundert zu einer „dechristianization" (S. 1) gekommen sei. Inwiefern ein solcher Prozess überhaupt erst ermöglichte, dass die „leeren" christlichen Symbole und Worte neu angefüllt und zur Nationalisierung instrumentalisiert werden konnten, wird nicht behandelt.

Im Titel wird angekündigt, dass der Untersuchungszeitraum bis 1930 reicht, doch dieser Anspruch wird nicht eingelöst, allenfalls in Einzelfällen reichen die Quellen bis in das Jahr 1930. Dabei wäre es gerade spannend gewesen zu erfahren, wie sich die ausführlich geschilderten Feiern zum 14. Juli, 11. November, 16. -19. Oktober 1919 (Einweihung Sacre Coeur) und zum 50. Jahrestag der 3. Republik 1920, trotz der Differenzen republikanischer, sozialistischer und katholischer Gruppen bis zum Ende des Jahrzehnts weiterentwickelt haben. Oder wie es zu erklären ist, dass die Dritte Republik, die christliche Symbole im öffentlichen Raum verbietet, das Kreuz zum Kennzeichen seiner Soldatengräber macht (S. 117)? Trotz der sehr intensiven Darstellung der Feiern nach 1918 bleibt der Leser unbefriedigt, denn viele Fragen bleiben unbeantwortet, viele Wege zukünftiger Forschung werden allenfalls angedeutet.

Im Gegensatz dazu widmet sich der von Friedhelm Boll herausgegebene Sammelband mit einem Untersuchungszeitraum vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Zweiten Weltkrieg den Fragen, die Becker offenlässt: Wie legitimierte die Kirche den Krieg, wie spendete sie Trost, stabilisierte die Gesellschaft, wie half sie bei der Verarbeitung von Leid und wie scheiterte sie unter Umständen als Deutungsmacht? Quellenbasis sind zumeist individuelle Quellen, sie werden in einem „offenen Verfahren" (S. 3) ausgewertet. Vor allem die Vielfalt der ausgewerteten Quellen ist – auch in Hinblick auf zukünftige Forschung – anregend. Die Beiträge in dem Sammelband - darunter auch der klare und informative Literaturbericht von Jochen-Christoph Kaiser - widmen sich der Frage, wie es zum Verlust der christlichen Substanz von Symbolen und Worten kam und wie die Nationalisierung theologischen Denkens und Redens zu erklären ist. An konkreten Fällen wird u.a. die religiöse Praxis der Soldaten oder die Delegitimierung der Kirchenfrömmigkeit herausgearbeitet.

Bei aller Erkenntnis, die die Untersuchungen liefern, werden auch die Grenzen der Erforschung dieses Themenfeldes offengelegt: weil dem Historiker, so betont Kaiser, das Instrumentarium zur Messung der Tiefendimension religiösen Denkens fehle (S. 25).

Die Schwierigkeit vieler Sammelbände wird auch hier deutlich: Die verbindende Klammer der Beiträge fehlt, so dass der Leser bei jedem Beitrag neu beginnen muss.

Susanne Brandt, Düsseldorf



© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2000