Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Friedhelm Boll (Hrsg.), Verfolgung und Lebensgeschichte. Diktaturerfahrung unter nationalsozialistischer und stalinistischer Herrschaft in Deutschland, Berlin-Verlag, Berlin 1997, 287 S., kart., 29 DM.

Der Publikation liegt die Gründung des Vereins „Gegen Vergessen - Für Demokratie e. V." zugrunde: Erstmals haben sich Verfolgte des Nationalsozialismus und des Stalinismus in einem Verband zusammengeschlossen. In der vorliegenden Publikation werden - eingefasst von den Beiträgen Friedhelm Bolls und Bernd Faulenbachs - die Einzelschicksale Verfolgter beider Diktaturen geschildert: „Jedes Schicksal ist individuell und sollte auch als solches betrachtet werden", formuliert der Herausgeber (S. 13). Darüber hinaus geht es in dem Band um die Verschränkung individuellen Verarbeitens und öffentlichen Gedenkens (S. 16). Und es wird der Frage nach Verhaltenskontinuitäten und –diskontinuitäten nachgegangen (S. 267).

Diese Ansprüche können Herausgeber und Autoren nicht erfüllen, denn, wie Boll zu Recht unterstreicht, es gibt bislang nur wenige Historiker, die sowohl den Nationalsozialismus als auch die DDR untersuchen. Überdies hat oftmals der politische Standort des Forschers Einfluss darauf, welchem Themenkomplex er sich zuwendet (S. 10). Insofern zeigt der Sammelband, in welche Richtung die Forschung zukünftig gehen könnte: Nämlich die Strategien zu untersuchen, die – jenseits individueller Verarbeitungsstrukturen – festlegen, wie die Angehörigen gesellschaftlicher Gruppen ihre Vergangenheit in Bezug auf die Gegenwart neu konstruieren. Im Sinne von Maurice Halbwachs müssten die Rahmen erforscht werden, die die Erinnerung der Opfergruppen festlegen. Fast schmerzhaft spiegeln die Interviews und Zeugenberichte wider, in welchem Maß das erinnerte Erleben durch die Erfahrungen danach sinnvoll wird oder unbegreiflich bleibt. Leider gelingt es den Autoren nicht, die zum Teil 50 Jahre währende Konstruktionsarbeit des Erlebens ihrer Interviewpartner in Konzentrations- oder Straflagern aufzubrechen, bzw. in ihrer Wandelbarkeit aufzuzeigen. Das scheint am Beispiel individueller Fälle auch unmöglich. Erst die von Boll geforderte „Kollektivbiografie" (S. 19) könnte herausarbeiten, welche Muster in gesellschaftlichen Gruppen vorgegeben und verbreitet wurden, die eine Konstruktion des Vergangenen formten und aus dem „Einzel"schicksal Gruppenschicksale machten.

Die Autoren legen den Bezug zur Gegenwart, den die Erinnerung via Vereinsgründung und Publikation des Buches hat, offen: Eine Pluralität der Erinnerungen, eine Gleichstellung aller Opfergruppen gilt nicht nur als Gebot demokratischer Gesellschaften, sondern auch als notwendiges Mittel zur Demokratisierung (S. 5, 9, 11, 12f., 284). Über die Schicksale der Verfolgten zu lesen, ist eine Bereicherung, vielleicht auch deshalb, weil sie so wenig „spektakulär" sind.

Susanne Brandt, Düsseldorf



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