Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Tom Behan, The Long Awaited Moment: The Working Class and the Italian Communist Party in Milan. 1943-1948, Verlag Peter Lang, New York 1997, 310 S., geb., 81 DM.

Einer der augenscheinlichsten und in der Geschichtsschreibung weitestgehend akzeptierten Wendepunkte der europäischen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts ist der Moment der Befreiung von der Naziokkupation 1944/45. Dies gilt gleichermaßen für Ost- wie Westeuropa, und niemand wird bestreiten wollen, dass diese je nach Region zeitlich unterschiedliche „Stunde Null" einen tiefen Einschnitt bedeutete. Doch hatte die überragende Bedeutung dieses Umbruchmoments leider auch zur Folge, dass die Geschichtswissenschaft „1944/45" oft entweder als Schlusspunkt einer Ära oder als Beginn einer neuen Zeit ansieht, und dass sie es, von wenigen Ausnahmen abgesehen, weithin vemieden hat, diesen Bruchpunkt zu relativieren und den Moment der Befreiung in soziale, kulturelle und politische Zusammenhänge einzubetten, die früheren Ursprungs waren und deren Einfluss erst Jahre später wieder abklang.

Ein Anliegen Tom Behans ist es, in einer lokalhistorischen Untersuchung nachzuweisen, dass, zumindest auf der Ebene der sozialen Bewegungen (konkret anhand der Rolle des Arbeiterwiderstandes in einem Industrievorort Mailands, Porta Romana) die „Stunde Null" kein Paradigmenwechsel mit sich brachte, dass vielmehr Ursprung und Ende der norditalienischen Streikwelle mit den Eckdaten 1943 und 1948 gekennzeichnet werden müssten. Die Streiks im März 1943, die den Anfang vom Ende des mussolinischen Reiches bedeuteten, und den militanten Generalstreik vom Juli 1948 als Antwort auf das Attentat auf Palmiro Togliatti verband eine Kontinuitätslinie, die Ende April 1945, mit dem Moment der Befreiung in Mailand, nur einen einer ganzen Reihe von Höhepunkte aufwies.

Doch geht es Tom Behan eigentlich um etwas ganz anderes. Das Wichtigste seiner Studie besteht für den Autor in der Herausarbeitung eines gerade in diesen Jahren oft mehr als latenten Widerspruchs zwischen Theorie und Praxis der italienischen kommunistischen Partei (PCI). Behan versucht darzustellen, wie schwierig es die Führungskräfte der PCI hatten, die fundamentaloppositionelle Haltung breiter Teile der Mitgliedschaft, die von sozialistischen Erwartungen sowohl vor als auch nach der „Stunde Null" geprägt waren, im Zaum zu halten. Für die Parteispitze stand eine soziale Revolution nie auf der Tagesordnung. Zögerte sie hin und wieder insbesondere unter dem Einfluss der sozialen Bewegungen, im notwendigen Moment die Bremse anzuziehen, hob sich in Moskau der höchstväterliche Zeigefinger.

Theoretischer Ausdruck dieses tendenziellen Widerspruchs zwischen Parteibasis und Parteispitze wurde Togliattis Strategie der doppiezza, ein Terminus, der sinnigerweise in Wörterbüchern mit den Ausdrücken ,,Verstellung" und „Doppelzüngigkeit" übersetzt wird. Doppiezza bedeutete in den Jahren 1943-48, dass kommunistische Funktionäre, trotz ihrer explizit nicht-sozialrevolutionären Ausrichtung auf der Ebene der hohen und letztendlich entscheidenden Politik, in kleinem Kreise und insbesondere wenn der sozialrevolutionäre Druck von unten anwuchs und engagiert vorgetragen wurde, systemüberwindende Forderungen und Formulierungen der Mitgliedschaft tolerierten, unwidersprochen im Raum stehen ließen oder sogar mit zweideutigen Kommentaren indirekt unterstützten. Dies hatte zur Folge, dass linksoppositionelle Regungen grundsätzlich innerparteilich aufgearbeitet werden konnten und es zu keinen nennenswerten Abspaltungen kam. Doch gleichzeitig ließ doppiezza die Erwartungen der Mitgliedschaft weiter wachsen, und wichtige Teile der Parteibasis glaubten bis zum Sommer 1948 daran, dass der reformistische Kurs der Parteiführung taktischer Natur war und der Ruf zum letzten Gefecht jederzeit von oben herab erklingen würde.

Mittels dokumentarischer Quellen, aber vor allem durch die Auswertung von zahlreichen Interviews, die der Autor selber oder auch andere Forscher mit kommunistischen Zeitzeugen geführt haben, gelingt es Tom Behan, die Verquickung von tendenziell sozialrevolutionärem Arbeiterwiderstand mit hoher kommunistischer Politik stalinscher Prägung darzulegen. Aufgrund der meist klugen Vermischung seiner auf Porta Romana bezogenen Primärquellen mit ähnlichen Fakten aus dem Großraum Mailand und Norditalien ist dieses Buch von weitaus mehr als lokalhistorischer Bedeutung. Dass es dem Autor gelingt, direkte Kontinuitäten auf der Ebene sozialer Vernetzungen sowie konkreter Praktiken der zur Zeit des antifaschistischen Widerstands entstandenen Arbeiterbewegung bis zum Jahre 1948 aufzuweisen, gehört ebenso zu den positiven Aspekten dieser Studie wie die mitunter differenzierte Behandlung der Parteihierarchie, deren innere Verwerfungen ebenfalls (wenn auch nicht zufriedenstellend) zur Sprache kommen.

Die große Schwäche dieser Arbeit liegt in der unbedarften Handhabung von analytischen Kategorien, die der orthodox-trotzkistischen Tradition, in der Tom Behan steht, geschuldet sind. So wird die PCI konsequent als nicht-"marxistisch" eingestuft, weil sie nicht konsequent leninistisch sprach und handelte, und zwar in der Tradition Lenins nach seiner Rückkehr ins revolutionäre Russland 1917. Allzuoft konstatiert Behan einen quasi-statischen Widerspruch zwischen Führung und Masse der PCl-Arbeiterschaft in Porta Romana und anderswo. Doch wenn man diese Einschränkungen akzeptiert, kann diese Monographie durchaus zum besseren Verständnis der Dynamik nicht nur der norditalienischen politischen und sozialen Lage in den 1940er Jahren beitragen.

Gerd-Rainer Horn, Salem/Oregon



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