Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Jörg Westermayer, Politik als Beruf. Der Parlamentarier Moriz Mohl 1802-1888 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Band 111), Droste Verlag, Düsseldorf 1998, 353 S., geb., 78 DM.

Standen lange Zeit die liberalen Politiker des 19. Jahrhunderts im Zentrum der Forschung, ist in den vergangenen Jahren verstärkt der demokratische Flügel der 48er-Bewegung in den Blick geraten. Im Zuge dieser Umorientierung galt eine Biographie über den 1802 geborenen württembergischen Wirtschaftswissenschaftler und demokratischen Politiker Moriz Mohl, ein Bruder des bekannten Staatsrechtlers und Politikers Robert Mohl, als Forschungsdesiderat. Diese Lücke hat Jörg Westermayer nunmehr geschlossen. Für seine Studie zieht er eine Vielzahl von bislang kaum ausgewerteten Quellen heran, so etwa die umfangreiche Korrespondenz Mohls mit seinen Brüdern und seinen Nachlass.

Westermayer bietet weniger und mehr als die Biographie eines deutschen „Radikaldemokraten": Anhand der politischen Karriere Mohls will er die „Arbeit eines Abgeordneten im Dreieck zwischen Gesellschaft, Parlament und Regierung" untersuchen, um „das Wissen um die politischen Prozesse zwischen Regierung, Parlament, Parteien und Wählern im System der konstitutionellen Monarchie" aufzuhellen (S. 11). Mohl bietet sich für dieses Unterfangen wegen seiner fachlichen Kompetenz, vor allem aber wegen seiner bemerkenswerten politischen Professionalität und Kontinuität an: Als Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung, des Zollparlaments und des Reichstags, vor allem aber als jahrzehntelanger Vertreter des Wahlkreises Aalen im Württembergischen Landtag (1849-1887) weist er eine für das 19. Jahrhundert ungewöhnlich lange parlamentarische Karriere auf. Um sich gänzlich seiner Abgeordnetenarbeit zuwenden zu können, gab er mit Annahme des Mandats für die Nationalversammlung seine Stellung im württembergischen Staatsdienst auf, obwohl dies für ihn empfindliche finanzielle Einbußen bedeutete. Damit war er laut Westermayer und im Sinne von Max Weber einer der ersten Berufspolitiker, weil er „für die Politik" und nicht „von" ihr lebte (S. 326). Das erkenntnisleitende Interesse dieser Arbeit ist also ein doppeltes: Sie will dem Politiker Moriz Mohl schärfere Konturen geben, ihn in seiner Entwicklung schildern und zugleich allgemeine Erkenntnisse über die Verfassungspraxis des Konstitutionalismus im 19. Jahrhundert gewinnen.

Daher muss Westermayer sowohl inhaltlich als auch formal einen Kompromiss zwischen Biographie und Strukturanalyse finden. Biographisch konzentriert er sich ganz auf Mohls politisch-berufliches Leben, das er mit verschiedenen Feldern der Abgeordnetenarbeit und deren gesellschaftlichen Voraussetzungen verknüpft. Die Studie folgt diesem chronologisch-systematischen Muster, wobei der Autor sich an der üblichen politikgeschichtlichen Großgliederung des 19. Jahrhunderts orientiert. Diese Einteilung eignet sich durchaus auch für die gewählte mikrohistorische Perspektive: beide erfassen deutliche Zäsuren im Leben des Abgeordneten Mohl.

An den Anfang seiner Darlegung stellt Westermayer Mohls bereits 1820 erarbeitete wirtschaftspolitische Konzeption, die den Schlüssel zum Verständnis seiner zeitlebens verfolgten Wirtschaftspolitik bildet. Gegen das physiokratisch-merkantilistische Autarkiedenken der württembergischen Regierung argumentierte Mohl für die Abschaffung feudaler Strukturen und für Gewerbefreiheit zur Förderung der Industrie. Im Glauben an die Verantwortlichkeit des Staates für das Wohlergehen seiner Bürger und in der Überschätzung seines Handlungsspielraums entpuppt sich Mohl weniger als wirtschaftsliberaler Theoretiker denn als in der Tradition der Kameralistik stehender Beamter. Vor diesem Hintergrund wird sein lebenslanges Engagement sowohl für Schutzzölle und den Verbleib der Eisenindustrie in staatlicher Hand als auch für Gewerbefreiheit verständlich.

Überhaupt scheinen alle Etikettierungen bei Moriz Mohl in die Irre zu führen, zu unorthodox und immer wieder in Extremen denkend gibt er sich - was Westermayer besonders plastisch anhand seiner Forderungen zur Abschaffung des Adels und gleichzeitig des Ausschlusses der Juden von der Geltung der Grundrechte deutlich macht: Hier „finden sich zwei extreme Positionen zur bürgerlichen Gleichheit in einer Person vereinigt" (S. 98). Aber auch in anderen Debatten verfolgte Mohl kein einheitliches Programm: So bekannte er sich z. B. einerseits zum Prinzip der Volkssouveränität, hielt aber andererseits formal stets an der konstitutionellen Monarchie fest. Immer dort, „wo es ihm notwendig erschien, wandte er sich ohne Umschweife von liberalen und demokratischen Grundpositionen in der Verfassungsfrage ab" (S. 99). Vollends schwierig wird die politische Klassifikation Mohls mit seiner zunehmend konservativen Grundhaltung, die er, wie Westermayer konstatiert, seit Beginn der 1860er Jahre einnahm. Sukzessive gab er viele Positionen auf, für die er vormals mit Vehemenz gestritten hatte, so vor allem die uneingeschränkte Geltung der Grundrechte.

Institutionengeschichtlich beleuchtet Westermayers Studie anhand von Mohls Wirken im nachrevolutionären Württembergischen Landtag die Methoden der Parlamentsarbeit auf allen Ebenen. Am Beispiel von Mohls Wahlkreis untersucht er die unter wechselndem Wahlrecht erfolgreich gestalteten Wahlen sowie die Verbindung des Abgeordneten zu seinem Wahlkreis. Dabei zeigt sich, dass Mohl als Politiker seinem Selbstverständnis nach Wissenschaftler blieb, der die Aufgabe habe, nach den einzig richtigen Wegen für gesellschaftlichen Fortschritt zu suchen. Dieser Anspruch spiegelt sich beispielsweise in seinen Berichten für die parlamentarischen Enquetekommissionen, die die besondere Aufmerksamkeit Westermayers finden. Mohls Engagement etwa in den Fragen der Weiderechtsablösung, des Eisenbahnbaus oder des Hausierwesens erklärt Westermayer damit, dass Mohl in den Enqueteuntersuchungen eine Möglichkeit sah, das Parlament von offiziellen Informationen unabhängiger zu machen und durch Sachkompetenz Einfluss auf Regierungsentscheidungen zu gewinnen. Allerdings ging ihm häufig der Blick für das Machbare verloren. Vor allem dauerte die Erstellung der Kommissionsberichte viel zu lange (manchmal mehrere Jahre), als dass sie noch politische Wirkung hätten erzielen können. Dennoch habe Mohl mit seinen Berichten die Kontrollmöglichkeiten der Enquetekommission bis an die Grenzen des im deutschen Konstitutionalismus Möglichen ausgeweitet und zugleich dem Petitionsrecht der Kammer erst die notwendige Basis und Substanz verschafft.

Die andere Seite dieses wissenschaftlichen Selbstverständnisses ist das in der vormärzlichen Staatsrechtslehre kultivierte, ganz auf die Honoratiorenwahl zugeschnittene Bild des unabhängigen, überparteilichen Abgeordneten. Eindringlich zeigt Westermayer, wie sehr Mohl bemüht war, diese Unabhängigkeit sowohl gegenüber der Fraktion als auch gegenüber seinen Wählern zu wahren. Zwar engagierte er sich nach der Revolution im Aufbau der demokratischen württembergischen Volkspartei, doch benutzte er sie eher als Vehikel für seine Ziele als dass er sich in sie integrierte. Wesen und Funktion von politischen Parteien, so resümiert Westermayer, blieben Mohl letztlich fremd. Da er glaubte, alle gesellschaftlichen Konflikte wissenschaftlich lösen zu können, sah er die Aufgabe des Abgeordneten vornehmlich in einer unpolitischen Sacharbeit. Auch in diesem Verständnis sieht Westermayer einen Grund für die konservative Wende Mohls.

Die gleiche Unabhängigkeit beanspruchte Mohl im Prinzip auch auch gegenüber seinen Wählern in Aalen. Aus diesem Selbstverständnis heraus wandte er sich trotz eines neuartigen, auf Wahlberufen und öffentlichen Veranstaltungen basierenden Wahlkampfes gegen eine über die Arbeit von Wahlvereinen hinausgehende politische Mobilisierung der Bevölkerung, so dass Westermayer Mohls Demokratieverständis am besten durch den Satz: „alles für das Volk, nichts durch das Volk" (S. 78) charakterisiert findet.

Der nochmalige Anlauf des fast 70-jährigen, noch einmal in der „großen Politik" des Zollparlaments und dann des Reichstags mitzuwirken, war insofern wenig erfolgreich, als er sich dort sowohl inhaltlich mit seiner großdeutschen und dezidiert antipreußischen Position als auch mit seiner umständlichen Arbeitsweise weitgehend isoliert fand und kaum noch ernst genommen wurde.

Westermayer hat eine politische Biographie verfasst, die die Person Moriz Mohl in all ihrer Widersprüchlichkeit, ihrer fachlichen Kompetenz und ihrem politischen Mut, aber auch in ihren Eigenheiten und Selbstüberschätzungen eindringlich vor Augen führt und die die Möglichkeiten und Grenzen eines einzelnen Parlamentariers im System des deutschen Konstitutionalismus deutlich macht. Darüber hinaus werden die Mechanismen dieses Systems aufgezeigt und die Voraussetzungen und Bedingungen erfolgreicher Wahlen ,vor Ort' dargelegt. Der von Westermayer gewählte Kompromiss zwischen Biographie und Strukturanalyse hat allerdings (notwendigerweise) einerseits gewisse - vor allem biographische - Auslassungen, andererseits gewisse Wiederholungen, gelegentlich auch eine unnötige Kompliziertheit im Aufbau zur Folge. Schließlich bleibt zu fragen, wie repräsentativ das beschriebene Bild der Abgeordnetenarbeit für das 19. Jahrhundert wirklich ist, denn Westermayers Arbeit zeigt, dass Moriz Mohl in vielen Punkten gerade kein typischer Vertreter seiner Zeit ist, sondern zwischen dem Verhaftetsein in alten Traditionen und sehr zukunftweisenden Momenten merkwürdig changiert.

Dirk Pöppmann, Bochum



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