Archiv für Sozialgeschichte. - Online-Rezensionen : Online bookreviews . - Vol 40. 2000

Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Hartwin Spenkuch, Das Preußische Herrenhaus. Adel und Bürgertum in der Ersten Kammer des Landtags 1854-1918. Verlag Droste, Düsseldorf 1998, 651 S., geb., 148 DM.

Die Studie erzählt im Grunde zwei unterschiedliche Geschichten: Zum einen geht es um eine Sozialgeschichte der parlamentarischen Institution, zum anderen um eine Sozialgeschichte des preußischen Adels und seines Verhältnisses zum Bürgertum. Als Beispiele hierfür dienen die im Herrenhaus vertretenen Abgeordneten und ihre Familien. Mit der ersten Fragestellung betritt Spenkuch Neuland; mit der zweiten greift er ein altes Thema wieder auf, das seit Max Weber und Hans Rosenberg einen Eckpfeiler in der Diskussion um die Rolle Preußens in der deutschen Geschichte darstellt: die Frage nach der "Feudalisierung des Bürgertums" bzw. nach Verbürgerlichungsprozessen im preußischen Adel. In dieser Beziehung kann Spenkuch einige Befunde und Thesen präzisieren. Wirklich überraschend sind seine Ergebnisse jedoch nicht.

Auch die erste Leitfrage, die nach der Funktion und Bedeutung des Herrenhauses in der preußischen Geschichte, ist modernisierungstheoretisch bestimmt: Warum hat eine so anachronistische Institution so lange und so wenig verändert bestehen können? Deshalb stehen in einem ersten Teil drei erfolgsfähige Reformversuche im Mittelpunkt: Die Neue Ära 1858-62, der Konflikt um die neue Kreisordnung 1872 und die parlamentarische Neuordnung in der Endphase des Ersten Weltkriegs. Die Untersuchung macht deutlich, dass das Herrenhaus grosso modo als Unterstützungskomitee des Königs füngierte und mitunter diesen König auch noch rechts überholte. Die Chance, einen liberalen Aristokratismus nach englischem Vorbild aufzubauen, bestand nur in der Neuen Ära für kurze Zeit und muss im Ganzen als gering eingeschätzt werden. Das Herrenhaus funktionierte über das gesamte Kaiserreich hinweg als eine geschlossene Korporation, der die Loyalität zum Königtum als Pflichterfüllung galt und die die ungleiche Machtverteilung in den preußischen Institutionen rückhaltlos bejahte. Zum Ende des Ersten Weltkriegs taten sich aber dann doch Chancen des friedlichen Wandels auf, die vor allem einer ungewohnten Flexibilität auf freikonservativer Seite zu verdanken waren. Die preußischen Verfassungsreformen, die Spenkuch zu Recht als eine "halbe Parlamentarisierung gegen Sozialdemokratisierung" (S. 142) kennzeichnet, wurden nicht gegen das Herrenhaus, sondern mit großenteils mit ihm durchgesetzt. Insgesamt kam die Reform aber zu spät, die Revolution ging über sie hinweg. Was jedoch blieb, war ein mentaler Bodensatz, der bis weit in die Bundesrepublik in einer ständischen, besser noch berufsständischen Ersten Kammer einen Hort der Unparteilichkeit und politischen Weisheit sah.

Im zweiten und dritten Teil untersucht Spenkuch die verschiedenen Statusgruppen in ihrer sozialen Struktur. Deutlich wird, dass das Herrenhaus nicht ein Hort des Adels als solchem, sondern spezifisch des preußischen Militär- und Beamtenadels war. Bei der Sitzverteilung waren Preußen deutlich bevorteilt. Bürgerliche Grundbesitzer, erst recht Unternehmer, wurden vor allem deshalb möglichst ausgeschlossen, weil sie als liberal galten. Das Problem löste sich aber gegen Ende des 19. Jahrhunderts, weil diese "feudalisierten" Bürger und politische Einstellung ihrer Umwelt weitgehend angenommen hatten. Ebenso wurden polnische Grundbesitzer lange ferngehalten. Die interne Vernetzung der hauptsächlich altpreußisch-adligen Verbände war hoch; weder die Oberbürgermeister der Städte noch die Professoren konnten in diesen Kokon einbrechen. Mithin handelt es sich beim preußischen Herrenhaus nicht um eine „composite élite", sondern um einen adligen Statusverband mit bürgerlichen Satelliten.

Am originellsten ist das Buch in seinem vierten Teil, der das Herrenhaus als parlamentarische Institution beschreibt, denn hier blitzt ein Stück Alltagsgeschichte des Honoratiorenparlamentarismus dieser Hobbypolitiker auf. Die Befunde zum Leben der Herrenhausmitglieder in der ihnen ungewohnten Stadt, ihre Klagen über die Preise und ihre manchmal eigenbrötlerische Zurückhaltung bei gesellschaftlichen Veranstaltungen akzentuieren scharf, wie wenig höfisch dieser Kern der preußischen Aristokratie war: Im Grunde blieb die preußische Aristokratie ein Bauern- und Kriegeradel, weit weg von höfischer Eleganz. Mit dem parlamentarischen Tagesgeschäft untersucht Spenkuch eine Ebene des politischen Handelns, über die wir auch in anderen Parlamenten noch nicht gut Bescheid wissen. Der von Zeitgenossen oft bemerkte "vornehme Stil" des Herrenhauses war, so macht Spenkuch klar, weniger der aristokratischen Ästhetik als der schwach entwickelten politischen Professionalisierung und der geringen politischen Entscheidungslast zu danken: man konnte in aller Ruhe sachlich debattieren und auf Fensterreden verzichten, weil die Bedeutung der Herrenhauspolitik nicht groß war.

Jenseits dieser Befunde bleibt der Gesamteindruck dennoch zwiespältig. Das liegt zunächst auch an der Präsentation des Materials: das Buch ist gespickt mit Informationen, die man oft gar nicht benötigt, die jedenfalls nicht leserfreundlich aufbereitet werden. Insbesonders mit Zahlen und Namen wird man geradezu überschüttet. Hier wäre weniger mehr gewesen.

Zum zweiten aber fragt es sich, in welcher politischen Hinsicht das Herrenhaus denn überhaupt von Belang gewesen sei. Im legislativen Procedere war es dem Abgeordnetenhaus nachgeordnet; das galt insbesondere für die wichtige Finanzpolitik. Warum benötigte die preußische Monarchie neben dem ohnehin konservativ dominierten Abgeordnetenhaus und seinen gesellschaftlichen Stützen Großgrundbesitz, Militär und Bürokratie noch ein politisches Gremium, das sich nicht immer durch Kompetenz, zumindest aber durch Gemächlichkeit und manchmal auch dadurch auszeichnete, dass es päpstlicher (also konservativer) als der Papst (also der König) war? Diesem fragwürdigen politischen Gewinn gegenüber scheinen die autochthonen Interessen des Adels unterbewertet: Das Herrenhaus war ein Ort symbolischer Überhöhung der staatstragenden Funktionen dieser preußischen Grundbesitzerklasse; gleichzeitig zeigte es deren interne Differenzierung und war ein Ort, an dem diese Klasse sich begegnete, mithin: sich erst als Klasse "für sich" konstituieren konnte. Die Mitglieder des Herrenhauses waren durchschnittlich recht alt. Ihre Söhne mochten sich auf der Universität, als Beamte oder Militärs tagtäglich begegnen und so ein Gefühl der Zusammengehörigkeit entwickeln. Die Alten saßen auf ihren Gütern und hatten wenig Verkehr mit "ihrer" Gesellschaft. Eine Berufung ins Herrenhaus bot hier nicht nur Abhilfe, sondern bedeutete auch eine über die Nachbarn heraushebende Auszeichnung.

Wichtig war also das Herrenhaus, so scheint es, viel mehr für die preußischen Junker selbst als für ihren König. Die Erklärung, warum es so wenig reformfähig gewesen ist, müsste dann lauten: weil das Herrenhaus, so wie es war, für eben diejenigen da war, die darin saßen.

Thomas Mergel, Bochum



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