Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Hans-Christoph Seidel, Eine neue „Kultur des Gebärens". Die Medikalisierung von Geburt im 18. und 19. Jahrhundert in Deutschland, Franz Steiner Verlag, Stuttgart 1998, 469 S., kart., 148 DM.

Es ist angesichts der Fülle der in dieser Bielefelder Dissertation behandelten sozial- wie medizingeschichtlich spannenden Fragestellungen nicht leicht, sich als Rezensent nur auf einige Aspekte zu konzentrieren. Diese Studie wird über den Kreis der medizingeschichtlich Interessierten hinaus wissenschaftliche Beachtung finden.

Ausgehend vom Postulat der Medikalisierung, verfolgt der Autor das Thema Geburtshilfe auf drei Ebenen: Er fragt erstens nach den staatlichen Interessen, sich etwa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zunehmend regulierend und kontrollierend in den Bereich der Geburtshilfe einzuschalten. Zweitens untersucht Seidel die Professionalisierung von Geburtshilfe unter dem Aspekt einer verschärften Konkurrenz zwischen Hebammen und Ärzten. Drittens prüft er, ob sich die Auswirkungen von Medikalisierung der Geburtshilfe als frauenspezifische Disziplinierung einstufen lassen. Die Anfänge der „medicinischen Policey" Mitte des 18. Jahrhunderts und die Einführung der staatlichen Sozialversicherung Ende des 19. Jahrhunderts begrenzen den Untersuchungszeitraum.

Der Autor stützt sich ausschließlich auf veröffentlichte Quellen wie Handbücher, Lehrbücher, Ratgeberliteratur, Beiträge in Fachzeitschriften oder medizinische Topographien. Dieser Quellenzugriff erschwert allerdings einen Wechsel der Perspektive auf die Schwangeren. Er verhindert zudem zuverlässige und ausreichende Einblicke in die Praxis. Die verwendeten Quellen sind überwiegend normative. Die in den Fachzeitschriften veröffentlichten Fallstudien aus der Praxis von Geburtshelfern sind nur bedingt als Belege für die „Realgeschichte" der Geburtshilfe zu akzeptieren. Ihr Aussagewert wird durch persönliche, selbstdarstellerische Interessen ihrer Verfasser eingeschränkt. Seidel ist sich dieser „Schieflage" seiner Quellenbasis bewusst und geht sorgfältig mit ihr um. Die Untersuchung folgt in ihrem Aufbau in groben Zügen den oben genannten Fragestellungen im Kontext der Medikalisierung. Ein übergreifendes Kapitel schildert Hintergründe, Ziele und Maßnahmen staatlicher Programmatik seit der Mitte des 18. Jahrhunderts auf dem Feld der Geburtshilfe, zu jener Zeit noch das exklusive Betätigungsfeld von Hebammen. Der Aufstieg der Geburtshilfe zur ärztlichen Disziplin begann an den Universitäten bzw. in deren angegliederten Entbindungsanstalten, bildete doch das chirurgische Interesse am weiblichen Körper und an der Geburt den Ausgangspunkt des ärztlichen Engagements. Die Doppelfunktion der Entbindungsanstalten stellt der Autor in zwei Kapiteln getrennt dar.

Ein weiteres Kapitel geht auf die Medikalisierung lediger Schwangerschaft mit den dahinter stehenden disziplinierenden Absichten in den Gebäranstalten ein, ein anderes analysiert die Funktion der Entbindungsanstalten als Ausbildungsstätten für Ärzte. Ein dritter großer Abschnitt wendet sich den Folgen des Aufschwungs der Entbindungsanstalten zu. Ihr Erfolg bestand darin, die Geburtshilfe seit Anfang des 19. Jahrhunderts zu einem etablierten und verbreiteten Arbeitsgebiet der niedergelassenen Allgemeinmediziner gemacht zu haben. Hiermit war jedoch, so der Autor, keine Verdrängung oder „Deprofessionalisierung" der Hebammen verbunden. Vielmehr habe sich eine Arbeitsteilung zwischen Hebammen und Ärzten in der Geburtshilfe eingespielt. Die Anwesenheit einer Hebamme bei der Geburt blieb bis zum Beginn des 20. Jahrhundert die Regel, selbst in den Städten, wo sich der ärztliche Einfluss stärker durchsetzte. Ärzte wurde meistens nur bei schwierigen Geburten hinzugezogen. Diese Arbeitsteilung verlief allerdings nicht ohne heftige Rivalitäten zwischen Hebammen und Ärzten. Die Hebammen verfügten über eine Art Schlüsselposition im Dreiecksverhältnis Patientin, Hebamme und Arzt. Dank der größeren Vertrautheit der Hebamme mit dem Milieu der Gebärenden, deren Schamgrenzen oft die Anwesenheit eines männlichen Arztes verboten, überließ die Gebärende bzw. ihre Familie der Hebamme die Entscheidung, ob es medizinisch notwendig war, einen Arzt hinzuziehen. Sie vertrauten zudem darauf, dass die Hebamme einen geeigneten Arzt empfehlen würde. Die Hebammen hatten es also in der Hand, welche Ärzte bei Geburten oft und welche weniger oft halfen. Dass sie nicht aus der häuslichen Geburtshilfe verdrängt wurden, verdankten die Hebammen der großen Akzeptanz ihres Könnens bei ihrer Klientel vor allem in den weniger gebildeten, ländlichen Bevölkerungsschichten.

Die Disziplinierungsthese, die Frauen einseitig auf der Verliererseite des Medikalisierungsprozesses im 19. Jahrhundert einordnet, wird in dieser Studie in Bezug auf das Arzt-Hebammen-Verhältnis mit fundierten Befunden zurechtgerückt. Demgegenüber wird die Disziplinierungsthese hinsichtlich der Arzt-Patienten-Beziehung in den Entbindungsanstalten geradezu krass bestätigt. Der Autor spricht sogar von einem „Gewaltverhältnis". Außerhäusliche Entbindung blieb bis Ende des 19. Jahrhunderts das Schicksal lediger armer Frauen. Soziale Indikatoren, weniger medizinische entschieden über die Aufnahme in eine staatliche Entbindungsanstalt. Hier war die Gebärende den Medizinern im konkreten Sinne des Wortes ausgeliefert und bezahlte ihren Aufenthalt in der Anstalt häufig mit ihrem Leben und dem ihres Kindes.

Ganz anders stellte sich das Arzt-Patienten-Verhältnis in der häuslichen Geburtshilfe dar. Bedingt durch die Vermittlungstätigkeit der Hebammen, waren hier medizinische Indikatoren ausschlaggebend für das Hinzuziehen des Arztes. Vorbehalte gab es jedoch auch hier. Sie resultierten zum einen aus Schamtabus, zum anderen aus Angst vor den mit einem operativen Eingriff verbundenen großen Gefahren für Leib und Leben, die sich erst mit Einführung der Antisepsis in den 1880er Jahren spürbar verringerten. So war es häufig die Angst vor den Operationsrisiken, die die Gebärende und ihre Angehörigen davon abhielt, rechtzeitig nach dem Arzt zu rufen. Wenn dieser dann, weil es zu spät war, nicht mehr helfen konnte, wurde er für die oft tödlichen Folgen verantwortlich gemacht. Dieses Detail deutet die Ambivalenz an, die der Einstieg in die Geburtshilfe für die ärztliche Berufsausübung mit sich brachte.

Die Rolle der Hebamme bestand nicht ausschließlich darin, der Schwangeren zur Seite zu stehen und nach deren Maßgabe über die Beteiligung eines Mediziners zu entscheiden, sondern es gab auch andere - gewissermaßen geschlechterübergreifende - Konstellationen. Einige Hebammen, besonders in den Großstädten, schlossen Verträge mit Ärzten, die sie den von ihnen betreuten Gebärenden vorzugsweise empfahlen.

Unter rein medizinischen Gesichtspunkten war die Medikalisierung der Geburtshilfe bis in die 1880er Jahre keine Erfolgsgeschichte. Einerseits verbesserte das technische Instrumentarium die individuellen Überlebenschancen von Mutter und Kind, andererseits riefen geburtshilfliche ärztliche Eingriffe manche Risiken erst hervor, die es vordem nicht gegeben hatte. Mentalitätsbedingte Vorbehalte gegen männliche Geburtshelfer in Gestalt von Ärzten waren ebenfalls verantwortlich für die lange ausbleibende Durchsetzung der Medikalisierung in der Geburtshilfe.

Obgleich diese Studie im Detail die These von der „Deprofessionalisierung" der Hebammen durch die Medikalisierung relativiert, muss, insbesondere wenn man an die Hospitalisierung der Geburtshilfe seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts denkt, konstatiert werden, dass die Arbeitsteilung zwischen Hebammen und Ärzten letztlich doch auf eine Benachteiligung der Frauen hinauslief: Die Hebammen blieben zuständig für die weniger anspruchsvollen Geburten. Die Abläufe der Geburt, die mehr Qualifikationen voraussetzten, mussten sie den männlichen Ärzten überlassen. Hier bahnte sich eine Entwicklung an, die mit der Hospitalisierung zur verbreiteten „Normalität" wurde: Die professionalisierte, gut dotierte männliche Geburtshilfe, repräsentiert auch durch den neuen, fachärztlichen Typus des Gynäkologen, drängte den weiblichen, geringer vergüteten Beruf der Hebamme immer mehr in den Hintergrund.

Elke Hauschildt, Koblenz



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