Archiv für Sozialgeschichte
Rezension
Christoph Jahr, Gewöhnliche Soldaten. Desertion und Deserteure im deutschen und britischen Heer 1914 -1918 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 123), Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1998, 420 S., brosch., 78 DM.
Militärgeschichte, noch in den 1980er Jahren verpönt, da als tendenziell konservativ verdächtigt, ist, seit sie sich modernen geschichtstheoretischen Ansätzen geöffnet hat, regelrecht »chic«. Trotz gelegentlicher Fehl- bzw. Schnellschüsse verdanken wir dieser Entwicklung einen inzwischen beträchtlichen Output an ertragreichen, teilweise wegweisenden Arbeiten zum Verhältnis von Militär und Gesellschaft im weitesten Sinne. In diesen Kontext gehört auch die Arbeit von Christoph Jahr, eine von H. A. Winkler betreute Berliner Dissertation.
Vor dem Hintergrund der These vom verdeckten Militärstreik (Deist) und, damit eng verknüpft, der Wirkung der »Dolchstoßlüge« sowie des daraus folgenden furchtbaren Schicksals vieler Deserteure während des Zweiten Weltkrieges ist das Thema Desertion vor allem für die deutsche Geschichte von erheblicher Bedeutung.
Das Erkenntnisinteresse des Verfassers geht jedoch über diesen engen nationalen Rahmen weit hinaus. Für ihn ist die Behandlung von Desertion vielmehr ein Schlüssel zum Verständnis für das Funktionieren der Armee als soziales System und für die Analyse des Einflusses von militärischen Traditionen und Strukturen sowie der Rückwirkungen von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auf diese. Im Hinblick auf die »Sonderwegsthese« ist es besonders reizvoll, dass Jahr diesen Fragen im Rahmen eines Vergleichs zwischen dem Deutschen Reich und England als dem »Mutterland« der Demokratie nachspürt. Dies macht es möglich, das Verhältnis von ziviler und militärischer Sphäre in zwei unterschiedlichen Systemen zu untersuchen und herauszuarbeiten, dass das Verhältnis zwischen den Entwicklungsstufen einer Gesamtgesellschaft und ihren Subsystemen keineswegs linear, sondern vielmehr durch Verwerfungen, Brüche und Disparitäten gekennzeichnet war.
Die Analyse der Beziehungen zwischen Armee, Gesellschaft und Justiz vor und während des Krieges sowie eine akribische und mehrfach die Perspektive wechselnde Untersuchung des Problems der Desertion im engeren Sinne bilden daher die Schwerpunkte der Arbeit.
Als für die weitere Forschung wichtiges Ergebnis der Studie ist zunächst festzuhalten, dass politische Rückständigkeit bzw. Modernität über das Verhalten der Armee gegenüber »ihren« Deserteuren wenig aussagt. So wurden z. B. englische Deserteure vor und während des Krieges insgesamt weitaus härter und willkürlicher bestraft als in der preußisch-deutschen Armee: 18 deutschen hingerichteten Soldaten stehen 269 britische gegenüber. Verantwortlich dafür war vor allem die Tatsache, dass der Eintritt in die britische Berufsarmee »als Tiefpunkt im sozialen Abstieg« (S. 19) betrachtet wurde und der Zusammenhalt der Truppe daher latent gefährdet schien. Während des Weltkrieges wandelte sich dann das englische Heer, nicht zuletzt, weil die »Zivilisierung« der Armee infolge des Eindringens von Zivilisten in subalterne Offiziersränge zunahm. Viele drakonische, in erster Linie der Abschreckung dienende Urteile wurden häufig auf dem Gnadenwege gemildert. Für die deutsche Armee als einem Wehrpflichtheer mit hohem gesellschaftlichen Ansehen war das Problem des Zusammenhalts von untergeordneter Bedeutung. Die Urteilspraxis war daher bereits vor 1914 entgegen dem Anschein durch die vielen Debatten um die »Blut- und Klassenjustiz« (S. 49) relativ milde. An dieser Tendenz änderte sich auch während des Krieges nichts, im Gegenteil: Nicht zuletzt unter dem Einfluss des Reichstages wurden die Mindeststrafen weiter herabgesetzt. Zur Erklärung dieses insgesamt erstaunlichen Phänomens, das mit dem überlieferten Bild des militaristischen Preußen-Deutschland so gar nicht harmoniert, verweist der Autor auf die Angleichung der Militärstrafgesetzgebung an die faktischen Gegebenheiten des Krieges sowie die überlieferte Ausdifferenzierung zwischen militärischer Kommandogewalt und Justizausübung. Da sich Jahr jedoch allein auf die Auswertung bayerischer Urteile beschränkt, die als sehr milde zu bezeichnen sind, die preußische Militärjustiz hingegen ebenso wenig berücksichtigt wie die Möglichkeit, dass es auch ernst zu nehmende Hinweise auf zahlreiche Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren gibt, wird man diese Erklärung, so plausibel sie insgesamt erscheint, nur mit Einschränkung als überzeugend bezeichnen können.
Eine weitere wichtige Erkenntnis von Jahrs Studie ist, dass es auch den Deserteur nicht gegeben hat. So desertierten zwar in der Regel einfache Soldaten; deren Motive jedoch waren vielfältig, und nationale Unterschiede sind ebenfalls nicht nachweisbar. Die in diesem Abschnitt aufgestellte Hypothese des Verfassers, dass es einen Zusammenhang zwischen Desertion und krimineller Vergangenheit geben könnte, erscheint allerdings problematisch. Die Datenbasis - sie beruht auf nur knapp 1 (!) Prozent aller Verfahren - ist für eine derartige Aussage nicht nur viel zu schmal, sondern dazu auch noch, wie der Vergleich zwischen den von Jahr ausgewählten bayerischen Regimentern zeigt, sehr widersprüchlich. Allein deshalb hätte der Autor gut daran getan, hier behutsamer vorzugehen, denn, dies sei unterstellt, wenn auch unbewusst, er nährt damit viele Vorurteile über Deserteure.
Zu den wohl wichtigsten Erkenntnissen dieser Arbeit gehört darüber hinaus der Nachweis, dass Desertion, entgegen dem in der Öffentlichkeit gelegentlich vorherrschenden Bild, kein Massenphänomen war, das die Kriegführung der deutschen oder der englischen Armee ernsthaft beeinträchtigt hätte. In der deutschen Armee lag die - mangels fehlender Quellen nur auf Hochrechnungen basierende - Quote im Vergleich zur Mannschaftsstärke bei 0,28 Prozent, in der englischen bei 0,33 Prozent. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass die Desertionsquote im englischen Heer weitgehend konstant war, im deutschen hingegen seit 1917 stetig stieg. Dennoch glaubt Jahr, eine wirkliche Auflösung der Kommandoautorität allenfalls in den letzten Kriegswochen feststellen zu können. Aufgrund der viel früher zu verzeichnenden Klagen führender Militärs und der vom Verfasser selbst eingestandenen hohen Dunkelziffer vermag diese These den Rezensenten nicht zu überzeugen; den Wert der Arbeit soll diese Kritik aber nicht schmälern. Dies ist umso wichtiger, als der Autor einen für die elende deutsche Diskussion über Deserteure wichtigen Unterschied zwischen beiden Nationen mit aller Deutlichkeit herausarbeitet: So marginal Desertion insgesamt militärisch gesehen auch war, so hatte die Ideologisierung dieses Problems im Zeichen der »Dolchstoßlüge« dennoch zur Folge, dass in Anlehnung an die vermeintlich richtige englische Praxis im Zweiten Weltkrieg mindestens 15.000 deutsche Deserteure verurteilt und hingerichtet wurden. Im Gegensatz dazu zog die englische Politik aus den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs die Lehre, trotz des Widerstandes der Militärs auf die Todesstrafe als äußerstes Disziplinierungsmittel zu verzichten: Kein einziger Soldat wurde wegen dieses Delikts mehr hingerichtet. Diese unterschiedlichen Lernprozesse, die wiederum ein bezeichnendes Schlaglicht auf die jeweilige Stärke der politischen Kontrolle über die Armee, die Fähigkeit, die eigenen Werte und Verhaltensweisen im Lichte der Erfahrungen zu prüfen und die Bereitschaft zur weiteren Demokratisierung werfen, sind daher auch die eigentliche Scheidemarke zwischen Deutschland und England im Zeitalter der Weltkriege. Das Verhalten gegenüber Deserteuren in Deutschland ist insofern ein Beispiel dafür, dass der »Ausgleich zwischen Modernisierung und Demokratisierung der Gesellschaft« (S. 338) misslungen war.
Michael Epkenhans, Bardowick