Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Heiko Haumann (Hrsg.), Der Traum von Israel. Die Ursprünge des modernen Zionismus, Beltz-Athenäum Verlag, Weinheim 1998, 329 S., brosch., 58 DM.

Am 14. Mai 1948 verlas David Ben Gurion unter dem Bild Theodor Herzls die Unabhängigkeitsurkunde des Staates Israel. Die »Reorganisation« eines Staates, die Zusammenführung einer zerstreuten ethnischen Minderheit in einem fremden unwirtlichen Land, die Reaktivierung der hebräischen Sprache zur Alltagssprache sowie der Aufbau einer ökonomischen und kulturellen Infrastruktur gehören ohne Zweifel zu den erstaunlichsten Ereignissen dieses Jahrhunderts.
Etwa ein halbes Jahrhundert zuvor hatten im August 1897 in Basel die 200 Teilnehmer des Ersten Zionistenkongresses mit dem Baseler Programm die Forderung aufgestellt, für das jüdische Volk eine »öffentlich-rechtlich gesicherte Heimstätte in Palästina« zu schaffen. Die politisch-programmatischen und rhetorischen Fähigkeiten Herzls hatten es ermöglicht, einen Zionismus in allen seinen politischen, nationalstaatlichen, kulturellen und religiösen Richtungen organisatorisch zusammenzuführen. Der Ausgang war 1897 mehr als ungewiss und viele weitere Bedingungen mussten hinzutreten, um die zionistischen Vorstellungen des Jahres 1897 aus dem vermeintlich Utopischen in die Realität überführen zu können.
Erfolg und Wirkungen einer Idee nachzuspüren, ist eine lohnende Aufgabe historischer Forschung. Ein Rückblick nach hundert Jahren Baseler Programm war ein angemessener Anlass. Mitglieder des Historischen Seminars der Universität Basel um Professor Heiko Haumann haben sich dieser Aufgabe gestellt. Zum Jubiläum des Ersten Zionistenkongresses wurde 1997 in Basel eine Ausstellung organisiert, verbunden mit einem respektablen Begleitband unter der Herausgeberschaft ebenfalls von Heiko Haumann (Der Erste Zionistenkongress von 1897 - Ursachen, Bedeutung, Aktualität. In Basel habe ich den Judenstaat gegründet, Basel 1997). Der hier angezeigte Sammelband versteht sich als Ergänzung zu diesem Begleitband. In einem längeren Essay hat Haumann einführend nochmals die wichtigsten Aspekte des Zionismus und die durch ihn bewirkten Reflektionen, aber auch Veränderungen im jüdischen Selbstverständnis dargestellt. Der Essay besticht nicht nur durch seine klare Gedankenführung und Stoffbeherrschung, sondern auch durch die Fülle der verarbeiteten deutschsprachigen und internationalen Sekundärliteratur. Der Leser erfährt einprägsam, wie sehr der Zionismus zunächst das politisch aufbegehrende Konzept einer innerjüdischen Minderheit war und im Spannungsverhältnis von Emanzipation der Juden in Westeuropa, verbunden mit einer sich beschleunigenden Assimilation, von Pauperisierung der Ostjuden, deren besonderen Verfolgungsgeschichte und von sich verstärkendem Antisemitismus stand. Erfolge und Niederlagen sind es, welche diese Darstellung ereignis- und personenbezogen strukturieren.
In den weiteren 13 Beiträgen werden einzelne Personen und besondere Themen aus dem Zeitrahmen von etwa Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die 1920er Jahre dieses Jahrhunderts herausgestellt. Darin werden ideengeschichtliche Hintergründe und innerzionistische Entwicklungen vorwiegend mittelbar und angesichts der Stofffülle doch nur exemplarisch vermittelt. Es handelt sich um kleinere Forschungsarbeiten zumeist jüngerer Autoren, die mit vielen Detailkenntnissen ein buntes Bild abseits der bekannten zionistischen Hauptwege zeichnen. Dabei wird manches dem Vergessen entrissen. Der Leser wird mit der Erkenntnis konfrontiert, dass eine erfolgreiche Idee nicht allein von einigen bedeutenden aktiven Persönlichkeiten abhängig ist, sondern eine vorbereitende und aufnehmende breite Basis erfordert. Die Auswahl der Themen macht allerdings etwas den Eindruck der Zufälligkeit. Als Einzelpersonen werden in diesen Beiträgen Titus Tobler, Leopold Hamburger, Sigmund Simmel, Abraham Mapus, Alfred Elias und Michael Schabad vorgestellt. Daneben wenden sich einige Autoren vor allem dem Entstehen, der gelungenen oder auch misslungenen Rezeption der zionistischen Gedanken in vornehmlich in Ost- und Mitteleuropa, aber auch in der Schweiz, zu. Das geschieht zumeist stark quellenorientiert, so, wenn etwa den Ergebnissen des Ersten Zionistenkongresses in der Baseler Publizistik oder in der ungarischen Presse nachgegangen wird. Es ist eine mühevolle Forschungsarbeit, deren eigentlichen Erfolge erst in einer übergreifenden Zusammenführung liegen dürften. Schon jetzt zeigen jedoch die Befunde der Autoren, dass die Anfänge des modernen Zionismus nicht nur aus der herkömmlichen Sicht des unvermeidlichen politischen und organisatorischen Kampfes um eine Staatsgründung zu betrachten sind. Von sozialgeschichtlich weiterführendem Interesse für den untersuchten Zeitraum sind insbesondere die institutionelle und ideenwirksame Fundierung des Zionismus in den mittleren und unteren Führungsebenen des Judentums, die innerjüdische Auseinandersetzung sowie die Wandlungen des Zionismus selbst. Das verlangt nach Fokussierung im Detail, um in lebensgeschichtlichen Zusammenhängen der Kraft einer Idee und damit ihren Ursprüngen nachzuspüren. Dazu regen die Beiträge des Sammelbandes den Leser in geeigneter Weise und mit Gewinn an.
Die Realität des heutigen Staates Israel entspricht in vielem nicht dem damaligen zionistischen Traum, der ohnedies kein einheitlicher war. Man sollte deshalb die Beiträge mit dem heutigen Wissen um die tatsächliche Differenz zwischen Wirklichkeit und Vorstellungswelt in seinen zionistischen Anfängen lesen.

Ina Lorenz, Hamburg



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