Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Barbara Haubner, Nervenkitzel und Freizeitvergnügen. Automobilismus in Deutschland 1886-1914, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1998, 225 S., kart., 29,80 DM.

Die gesellschaftsverändernde Bedeutung des Kraftverkehrs wird zwar von niemandem bestritten, ist jedoch bisher von der Geschichtswissenschaft in ihren Details immer noch wenig erforscht worden. Während die Autoindustrien und die technische Entwicklung der Automobile ausführlich bearbeitet worden sind, standen die Nutzerinnen und Nutzer eher im Schatten der Forschung und waren in der Regel der historischen Spekulation ausgeliefert. Mit diesem Buch liegt nun eine Studie vor, die sich vorgenommen hat, die »Auswirkungen der Motorisierung auf die Gesellschaft« (S. 13) zu untersuchen. Es geht der Autorin darum, »die vielfältigen Probleme, die die Motorisierung mit sich brachte, und die Reaktionen auf das neue Verkehrsmittel aufzuzeigen« (S. 13). Das macht sie in zwei Schritten. Zuerst werden in je einem Kapitel Entstehung und Entwicklung des Automobils sowie der Automobilfirmen dargestellt. Danach folgt eine Untersuchung der Automobilvereine. Da ein Großteil der Autofahrerinnen und Autofahrer – 80-90% bis 1910, dann abnehmend – diesen angehörte, werden sie als Interessenvertretungen und als Gradmesser der gesellschaftlichen Reaktionen auf das Automobil untersucht. In zwei weiteren Kapiteln bietet die Autorin dann einen Einblick in die Struktur und die Aktivitäten der Vereine. Die Stärke der Studie, wie allein aus den einleitenden Sätzen zur Forschungslage unschwer zu schließen ist, liegt vor allem im zweiten Teil. Dennoch ist auch der erste nicht ohne Qualitäten. Diese liegen nicht in der Präsentation von neuen Quellenbeständen, sondern in einer gelungenen, komprimierten Überblicksdarstellung anhand der bekannten, vor allem traditionellen Literatur, die kritisch bewertet wird. Die Erfinder Benz, Daimler, Maybach mit ihrer unternehmerischen Tätigkeit und die technische Entwicklung der Fahrzeuge stehen wie in vielen anderen Publikationen im Vordergrund. Dennoch verweist die Darstellung darüber hinaus immer wieder auf den wirtschaftlichen und sozialen Kontext, sodass eine Synthese entstanden ist, die die traditionelle Literatur ergänzt. Aufschlussreich ist zudem die vergleichende Perspektive, unter der sowohl die Erfinder als auch die Entwicklung der Autoindustrien in Frankreich und Deutschland dargestellt werden. Im zweiten Teil schafft es die Autorin, mit einer Analyse der großen deutschen Automobilclubs (Mitteleuropäischer Motorwagenverein, Deutscher Automobil-Club, Allgemeiner Deutscher Automobil-Club, Allgemeiner Schnauferl-Club) deren soziale Zusammensetzung, Organisationsstruktur und Zielsetzung herauszuarbeiten. Die jeweiligen Publikationsorgane der Clubs dienen als grundlegende Quellen. Auch in diesem Fall zeigt die vergleichende Perspektive wieder Unterschiede und Übereinstimmungen auf: So setzten sich alle gegen »die Schikanen und Strafbestimmungen« (S. 103) der nichtmotorisierten Bevölkerung und Behörden und für die Anpassung der anderen Verkehrsteilnehmenden ans Auto ein oder boten – hier werden denn auch die Unterschiede deutlicher – gesellige Zusammenkünfte, (Sport)Wettbewerbe, Rennen, Ausstellungen, Versicherungen, Beratung und sonstige Informationen rund ums Autofahren. Schließlich setzten sie sich auch für verbesserte Rahmenbedinungen ihrer »Vehikel« wie die Reduktion der Auto-, Benzin- und Straßensteuem und für einen Straßenausbau ein. Schon 1914 existierte somit eine Automobil-Lobby, denn allein die Mitgliederstruktur zeigt, dass sich neben Adeligen und Reichen vor allem Leute aus der Kraftfahrzeugbranche in den Vereinen trafen und austauschten. Die Luxus-Clubs (MMV, DAC) umfassten nur einen kleinen Personenkreis; der aber war umso einflussreicher, als es sich um hochgestellte Persönlichkeiten mit viel politischem Einfluss handelte, die gezielt bei den maßgeblichen Stellen intervenieren konnten. Mit den prestigeträchtigen Rennveranstaltungen trugen die Vereine gleichzeitig zur Popularisierung des Kraftfahrzeugs bei. Auch wenn sich die von der Autorin versprochenen »Reaktionen auf das neue Verkehrsmittel« als diejenigen der Autofahrenden entpuppen, was etwas deutlicher hätte gemacht werden können, zeigen sie, wie, von wem und mit welchem Selbstverständnis das Auto bis zum Ersten Weltkrieg genutzt worden ist und welchen Einfluss die Autobesitzer auf die Durchsetzung des Automobils hatten. Damit liefert diese kleine Studie einen wichtigen Beitrag zum frühen Automobilismus in Deutschland.

Barbara Schmucki, Darmstadt



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