Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Eduard Bernstein, Die deutsche Revolution von 1918/19. Geschichte der Entstehung und ersten Arbeitsperiode der deutschen Republik. Hrsg. u. eingel. von Heinrich August Winkler und annotiert von Teresa Löwe, Verlag J. H. W. Dietz Nachf., Bonn 1998, 352 S., kart., 32 DM.

»Muss man nicht den Preis, den ein Neubeginn im Jahr 1918 gekostet hätte [...] abwägen gegen die Opfer und Schrecken seit 1933? Wird nicht ein Ja zur Weimarer Lösung erkauft mit der Hinnahme ihres Endes?« Mit diesen Fragen attackierte posthum Hans-Ulrich Wehler sozialdemokratische Politiker wie Friedrich Ebert, dem aufgrund der militärischen Niederlage des Kaiserreiches am 9. November die politische Verantwortung übertragen wurde, oder Philipp Scheidemann, der am gleichen Tag die deutsche Republik proklamiert hatte. Über das angebliche Versagen der Sozialdemokratie ist viel geschrieben worden, unzählige Zeitzeugen und Historiker haben die Motive der handelnden Politiker akribisch untersucht und deren Gestaltungsmöglichkeiten in der Revolutionsphase kritisch hinterfragt.

Die zweieinhalb Monate vom Sturz der Monarchie bis zur Wahl der Nationalversammlung gehören zu den umstrittensten Zeitabschnitten unserer neueren Geschichte. Allein deshalb ist es verdienstvoll, dass die scharfsinnige Analyse eines bedeutenden sozialdemokratischen Theoretikers, der auch als politischer Akteur eine wichtige Rolle spielte, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Eduard Bernstein, der sich im sogenannten »Revisionismusstreit« der Sozialdemokratie den Attacken des seinerzeit führenden marxistischen Theoretikers Karl Kautsky ausgesetzt sah und lange als Parteirechter galt, veröffentlichte 1921 den ersten Band seiner Revolutionsgeschichte, die den genannten kritischen Zeitraum umfasst. Sie wurde von Heinrich August Winkler, der wie kein Zweiter die Geschichte der organisierten Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik kennt und in einem dreibändigen Werk detailliert beschrieben und analysiert hat, mit einer problemorientierten Einführung versehen, in der die wesentlichen Fragen behandelt werden, die Historiker heute an diese Umbruchszeit stellen. Teresa Löwe versah Bernsteins Text mit hilfreichen Annotationen, sodass der Leser ihn mit Hilfe weiterführender Spezialliteratur in den historischen Kontext einordnen kann.

Bernsteins großes Thema war die Kooperation der gemäßigten Sozialdemokraten mit den demokratischen bürgerlichen Kräften; beide Lager verfolgten seit Revolutionsbeginn das Ziel, der parlamentarischen Demokratie zum Durchbruch zu verhelfen. Die spätere »Weimarer Koalition« aus SPD, Zentrum und Linksliberalen gilt bis heute nicht nur Ideologen, sondern auch manchen Historikern als »Verrat« an der Revolution bzw. als eine verhängnisvolle Konstellation, die einen demokratischen Neubeginn erschwert habe, weil sie sich nicht zu tiefgreifenden Reformen entschließen konnte. Bernstein wies in seiner Beschreibung und Analyse der Entwicklung vom Beginn des Umsturzes bis zu den Parlamentswahlen jedoch meiner Ansicht nach schlüssig nach, dass es keine vernünftige Alternative zu dieser Kompromisspolitik gegeben habe, die von dem aus Mitgliedern von MSPD und USPD paritätisch besetzten »Rat der Volksbeauftragten« von Anfang an mit Nachdruck betrieben wurde: »Selbst wenn die Sozialdemokratie [...] die ziffermäßige Mehrheit erhalten hätte, wäre die Heranziehung der bürgerlich-republikanischen Parteien zur Regierung ein Gebot der Selbsterhaltung der Republik gewesen. Sie war aber auch zugleich eine Lebensnotwendigkeit für Deutschland als Nation.« Es war gesamtstaatliches Interesse, das nach Bernsteins Überzeugung die verantwortlichen Sozialdemokraten in der Umbruchsphase leitete, nicht zielloses Taktieren oder ideologisch geprägtes Paktieren.

Ein weiterer Grund für die Hinwendung zu den bürgerlichen Politikern war für Bernstein die Spaltung des organisierten Sozialismus, die seiner Meinung nach wesentlich zu den politischen Katastrophen in den Monaten November und Dezember 1918 beigetragen hatte. Leitmotiv seiner Darstellung sind die »Kämpfe von Sozialisten gegen Sozialisten«, denn die Spartakisten und ihr charismatischer Führer Karl Liebknecht, dem Bernstein eine »starke Unbekümmertheit um die Folgen seines politischen Tuns« vorwarf, attackierten rigoros die Regierung der Volksbeauftragten. Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und ihr gewalttätiger Anhang, den der hellsichtige Beobachter von »Desperados« und »Fanatikern« durchsetzt sah, waren kompromisslose Gegner des parlamentarischen Systems, für das sich die SPD mit Nachdruck engagierte. Vor allem die »rote Rosa« verliert bei Berstein viel von ihrem geradezu mythischen Charakter, denn auch sie befürwortete den bewaffneten Kampf gegen die regierenden ehemaligen Parteigenossen und die gewaltsame Herstellung eines kommunistischen Zwangsstaates.

Dem Leser wird ein plastisches Bild von den erregten Debatten des ersten Reichskongresses der Arbeiter- und Soldatenräte vermittelt, der am 16. Dezember 1918 in Berlin zusammentrat und sich bei seinen Beratungen ständig dem Druck der Straße ausgesetzt sah. Als symptomatisch für die aufgeputschte Atmosphäre im Rätekongress galt der Ausruf des Extremisten Richard Müller, »nur über seine Leiche gehe der Weg zur Nationalversammlung«. Die Mehrheit unterstützte jedoch im Gegensatz zum »Leichenmüller«, wie man ihn spöttisch nannte, die auf das parlamentarische System hinstrebende Politik der provisorischen Regierung. Dennoch hatte der anwesende Volksbeauftragte Scheidemann vor diesem aufgehetzten Gremium einen schweren Stand, als er sich bei den Delegierten für die Etablierung eines parlamentarischen Systems aussprach.

Da Eduard Bernstein streng chronologisch vorging, schilderte er nach den Kontroversen im Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte ausführlich und plastisch die Revolte der disziplinlosen, ursprünglich auf die Regierung verpflichteten »Volksmarinedivision«. Ihren Putsch an den Weihnachtstagen 1918 schlugen herbeigerufene Garnisonstruppen blutig nieder, sodass sich die in der USPD organisierte Linke veranlasst sah, den Bruch der Koalition herbeizuführen, weil sie »Ebert und Genossen« die politische Verantwortung für die blutige Auseinandersetzung zuschob.

Während der Rat der Volksbeauftragten durch den Eintritt von Paul Löbe, Gustav Noske und Rudolf Wissell zu einem mehrheitsozialdemokratischen Gremium wurde, konstituierte sich der Spartakusbund als kommunistische Partei. Als Karl Liebknecht und andere Radikale in den ersten Januartagen den gewaltsamen Aufstand in der Reichshauptstadt wagten und u.a. die Redaktion des »Vorwärts« besetzten, schlugen Regierungstruppen den Putsch brutal nieder. In Bersteins Darstellung der Ereignisse werden die Misshandlungen und Erschießungen von Aufständischen durch Noskes Militärverbände scharf verurteilt. Den Kommunisten, die die Macht an sich reißen wollten, um die anstehenden Wahlen zu verhindern, wies er jedoch die Hauptschuld am Ausbruch der Gewalttätigkeiten zu. Mit Entschiedenheit geißelte er dann die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, deren aufrührerische Politik er stets bekämpft hatte, wandte sich aber auch dagegen, der provisorischen Regierung die Verantwortung für diese Verbrechen anzulasten. Für ihn war der Mord an Liebknecht die Geburt einer gefährlichen politischen Legende: »Der an ihm verübte Gewaltakt hat nur bewirkt, dass um seinen Namen sich ein Mythos wob, dank dessen der tote Karl Liebknecht noch länger Unheil anzurichten vermochte, als es dem lebenden möglich gewesen wäre.« Während er in Rosa Luxemburg vornehmlich eine von Illusionen beherrschte Frau sah, in deren Seele »ein aus der Abstraktion abgeleitetes Proletariat« lebte, »dem das wirkliche Proletariat nicht entsprach«, kritisierte er schonungslos den von Ehrgeiz und Egoismus getriebenen Liebknecht; ihm gab er die Hauptschuld an der Katastrophe, die die Spaltung der Arbeiterbewegung besiegelte.

Die Überzeugung, dass die Zusammenarbeit mit den bürgerlichen Parteien dringend geboten sei, wenn die Demokratie Bestand haben sollte, resultierte bei Bernstein aus folgender Einsicht: »Deutschlands ökonomische Lage und soziale Gliederung machten seine unmittelbare Umwälzung in ein völlig sozialistisches Gemeinwesen unmöglich. Ganz abgesehen von einer starken Bauernschaft, mit der die Republik noch weniger nach Laune umspringen konnte [...], gab es noch Millionen von bürgerlichen Gewerbetreibenden, deren sie gleichfalls nicht entbehren konnte. Selbst unter normalen Verhältnissen wäre angesichts dieser Sachlage der Ausschluss des gesamten Bürgertums von der Teilnahme an der Regierung ein Fehler gewesen, der sich bald bitter gerächt hätte.« Dieses pointierte Urteil, das sechzig Jahre später von dem Politologen Richard Löwenthal als »Anti-Chaos-Reflex« wiederbelebt wurde, wonach Revolutionen in hochindustrialisierten Gesellschaften aus Furcht vor dem Chaos wenig Chancen haben, erklärt, warum die regierenden Sozialdemokraten in den kritischen Novembertagen des Jahres 1918 nicht die Strukturreformen in die Wege leiteten, die nötig gewesen wären, um der neuen Staatsform ein gesellschaftliches Fundament zu geben. Vor allem der Herausgeber Winkler hat in seinen Publikationen immer wieder diese These vertreten; sie entschuldigt das Handeln der Politiker jener Zeit nicht, erklärt es aber. Die Furcht vor dem Chaos war seiner Auffassung nach »alles andere als eine fixe Idee«; diesen Eindruck gewinnt man auch bei der Lektüre des Buches über die deutsche Revolution. Eduard Bernsteins sorgfältig dokumentierte, von Winkler und seiner Mitarbeiterin Löwe kommentierte Revolutionsgeschichte besticht nicht nur wegen ihrer Detailtreue, sondern sie ist auch ein wichtiger Beitrag zu der bis heute andauernden Kontroverse, ob im November 1918 eine Chance verspielt wurde.

Diethard Hennig, Langensendelbach



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