Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Sheri Berman, The Social Democratic Moment: Ideas and Politics in the Making of Interwar Europe, Harvard University Press, Cambridge/MA, London 1998, 308 S., kart., 27,95 £.

Die Lektüre dieses Buches ist faszinierend und frustrierend zugleich. Faszinierend aufgrund der theoretischen Aussagen; frustrierend wegen der Fülle empirischer Daten, die Sheri Bermans These untermauern, gleichzeitig aber keine neuen Einsichten vermitteln, sondern lediglich die umfangreiche Sekundärliteratur wiederaufbereiten. »The Social Democratic Moment« mag daher paradigmatisch für die Widersprüchlichkeit der Politikwissenschaft sein, d.h. für ihre intellektuellen Reize, aber auch für ihre empirische Armut.
Zentral für Bermans theoretische Bemühungen ist die Rolle von Ideen in der Geschichte, zumindest der neueren Geschichte Westeuropas. Und in diesem Zusammenhang erweist sich die Autorin als durchaus innovativ. Gegen den Strom der sozialwissenschaftlich orientierten Erklärungsmuster ankämpfend, die hauptsächlich sozio-strukturelle Faktoren für den Verlauf der Geschichte verantwortlich machen, betont Berman, dass intellektuelle Ausrichtungen und Überzeugungen maßgeblicher Kreise in der schwedischen und deutschen Sozialdemokratie nicht nur für den Verlauf der jeweiligen Parteigeschichte verantwortlich zu machen sind, sondern aufgrund ihrer beider Schlüsselrolle gleichzeitig für den Verlauf der nationalen und sogar internationalen Geschichte der Zwischenkriegszeit. In dieser Sicht erklären verschiedenartige Faktoren, wie es zur Etablierung einer ideologischen Tradition innerhalb einer Organisation wie der Sozialdemokratie kommen konnte und kann. Berman konzentriert sich auf die Funktion von »Trägern« (carriers) bestimmter Überzeugungen, insbesondere auf den moderierenden Einfluss Hjalmar Brantings in Schweden, einem Land, das vor dem Ersten Weltkrieg noch antidemokratischer und repressiver war als das Wilhelminische Reich und wo radikale Tendenzen einen guten Nährboden hätten finden können. Diese intellektuellen Traditionen wiederum, einmal etabliert, beeinflussen maßgeblich die Haltung der jeweiligen Organisationen gegenüber tagespolitischen und insbesondere strategischen Fragen, was zur Folge hat, dass Entscheidungsträger mit unterschiedlichem Ideengut in ähnlichen Situationen oft völlig divergierende Schlussfolgerungen mit potenziell weitreichenden Konsequenzen ziehen. Am Beispiel der deutschen und schwedischen Sozialdemokratie bedeutete dies z.B. die zielstrebige und konsequent reformorientierte bzw. reformfreudige Haltung der Schweden sowohl in der Schlussphase des Ersten Weltkriegs als auch zu Zeiten der Großen Depression, während die deutsche Sozialdemokratie innerlich zerrissen zum Spielball anderer Kräfte wurde bzw. sich gegen Ende der Weimarer Republik in vermeintlich orthodoxer wirtschaftspolitischer Stasis gegen jegliche Reformbewegung stemmte und so möglicherweise dazu beitrug, dass nicht nur ihre eigene Organisation, sondern die gesamte Republik zum Scheitern verurteilt wurde.

Sheri Berman versieht diese Zuschreibung der wichtigen Funktion von geistigem Gedankengut mit wohldurchdachten und notwendigen Einschränkungen und setzt damit Schwerpunkte. Dass Ideen unabhängige Variablen sind, die historische Prozesse nachhaltig beeinflussen, bedeutet für die Autorin keineswegs, »dass jedwede politische Lösungsvorschläge jederzeit in allen Fällen gleichermaßen einlösbar sind« ( S. 227). Die Palette der konkret durchsetzbaren Möglichkeiten ist durchaus begrenzt. Andererseits betont Berman die außergewöhnliche Reichweite und katalytische Funktion von Ideen insbesondere in Zeiten historischer Umbrüche.

Bis zu diesem Punkt überschneidet sich Bermans Theorie von der Ideologie im historischen Prozess mit der Überzeugung des Rezensenten, der in seiner 1996 erschienenen Studie »European Socialists Respond to Fascism: Ideology, Activism and Contingency in the1930s« zu ähnlichen Schlussfolgerungen kam. Doch Bermans Arbeit hat auch eine versteckt teleologische Komponente, die schon aufgrund eigener Aussagen eigentlich fehl am Platz ist. Denn trotz ihrer Betonung der Schlüsselrolle von Umbruchsituationen behandelt Sheri Berman die Ideengeschichte der schwedischen und deutschen Sozialdemokratie in der Zwischenkriegszeit so, als ob einmal erreichte Positionen unwandelbar würden, dass also die orthodoxe Verkrampfung der SPD unweigerlich zur Zurückweisung neuer Ansätze führen musste. Empirisch ist dies im Falle der SPD durchaus korrekt. Doch hätte ein Blick über ihren Zweistaatenvergleich hinaus genügt, um diesen Quasi-Fatalismus kritisch zu hinterfragen. Denn einige andere kontinentaleuropäische sozialdemokratische Parteien, um nur bei diesem Beispiel zu bleiben, veränderten ihre eigene respektive die politische Gesamtorientierung gerade aufgrund der durch die Große Depression und das Erstarken der radikalen Rechten hervorgebrachten sozialen und politischen Umwälzungen auf radikale Weise.
Ideen schaffen Traditionen, die oft nur schwer beeinflussbar sind. Doch so wie die meisten Ideologien in Umbrüchen und aus Situationen und Momenten des Umbruchs heraus entstehen, so können sie auch in späteren Krisen durch neue Gedankensysteme abgelöst werden. Ideologie und Kontingenz sind zwei Schlüsselkonzepte zum besseren Verständnis des historischen Prozesses. Es ist Sheri Bermans Verdienst, zumindest einen dieser Begriffe von der nagenden Kritik der sozialwissenschaftlich-strukturalistisch orientierten Geschichts- und Politikwissenschaft herausgelöst zu haben.

Gerd-Rainer Horn, Salem/Oregon



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