Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Dieter Düding, Zwischen Tradition und Innovation. Die sozialdemokratische Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen 1946-1966, Verlag J. H. W. Dietz/Nachf., Bonn 1995, 408 S., geb., DM 68 DM.

Dieter Düding, Volkspartei im Landtag, Die sozialdemokratische Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen als Regierungsfraktion 1966-1990, Verlag J. H. W. Dietz/Nachf., Bonn 1998, 404 S., geb., 68 DM.

Mit der beiden Bänden von Dieter Düding liegt eine exemplarische Darstellung der Tätigkeit einer Landtagsfraktion vor. Doch bietet die Untersuchung mehr als nur die meist vernachlässigte Erforschung der Fraktionsarbeit über einen längeren Zeitraum. Sie ist eine Darstellung der sozialdemokratischen Opposition und später der Regierungspolitik in einem Bundesland, sie ist Landesparteiengeschichte und Analyse von Politik samt ihrer konfliktreichen und wechselnden Entstehungsbedingungen. Die Fraktionsgeschichte schreibt Düding als die Geschichte handelnder Menschen in den Strukturen des Landesparlaments, in den Konstellationen sozialdemokratischer Landespolitik und auf den verschiedenen Feldern der Landespolitik. Obwohl der Autor zahlreiche Gesichtspunkte berücksichtigt und auch deutlich soziale und biographische Profile herausarbeitet, bleibt die Untersuchung überwiegend politikgeschichtlich. Der erste Band beginnt mit der Darstellung der schwierigen Oppositionsarbeit in einer Landespolitik, die von der CDU dominiert wurde, seit 1950 auch in NRW die Allparteienregierung zu Ende gegangen war. Als die Koalition aus CDU, Zentrum und FDP infolge von bundespolitischen Konflikten zerbrach, konnte die SPD 1956 zusammen mit FDP und Zentrum vorübergehend eine Landesregierung unter Ministerpräsident Fritz Steinhoff bilden. Fehlende landespolitische Gemeinsamkeiten und gegenseitiges Blockieren in wichtigen Fragen prägten das blasse Erscheinungsbild der sozialliberalen Koalition, die Wähler bestätigten sie 1958 nicht.

Dauerhaft wichtig für die NRW-SPD wurde dann die Reorganisation der Landespartei, die vor allem von der Spitze der Landtagsfraktion vorangetrieben wurde: Traditionell waren die Bezirke in der SPD die zentrale Grundlage der Organisation - in NRW die vier traditionellen Bezirksorganisationen Westliches Westfalen, Niederrhein, Mittelrhein und Ostwestfalen. Ein Landesverband bestand nicht. Praktisch repräsentierte nur die Landtagsfraktion die SPD auf der Landesebene, sie ersetzte als "Partei im Parlament" auch die "Partei im Lande". Erst nach der Erfahrung des Landtagswahlkampfes von 1958, als erstmals eine Landeswahlkampfleitung eingesetzt worden war, wurden zaghaft die Kompetenzen auf der SPD-Landesebene ausgebaut. Umfassende Reformen der Landesparteiorganisation erfolgten in den 1960er Jahren. Die Modernisierung war dabei mit dem schmerzhaften Wechsel in der Führung der Landtagsfraktion und des Spitzenkandidaten für die Landtagswahl verbunden. Bereits 1962 wurde der Wahlkampf professionalisiert und schon teilweise zentralisiert. Nach der Landtagswahl 1962 begann vor allem Heinz Kühn die Reform der Landes-SPD voranzutreiben. Ein SPD-Landesverband mit demokratisch legitimiertem Landesvorstand wurde erst 1970 möglich.

Der zweite Band mit dem programmatischen Titel "Volkspartei im Landtag" beginnt mit dem auch vom politisch-kulturellen Klimawechsel in der Bundesrepublik beförderten Wahlsieg des SPD vom 10. Juli 1966, der ihr mit 49,5% (+6,2%) der Stimmen und 99 von 200 Sitzen im Landtag allerdings zunächst nicht die Regierungsmacht verschaffte. Erst als das erneuerte Bündnis aus CDU und FDP unter der Einwirkung bundespolitischer Ereignisse und dem Druck des in den Bergbauregionen Nordrhein-Westfalens krisenhaft verlaufenden Strukturwandels zerfallen war, konnte am 8. Dezember 1966 eine Koalition aus SPD und FDP die Landesregierung stellen. In NRW entschieden sich die Sozialdemokraten anders als ihre Genossen im Bund für ein sozialliberales Bündnis, das drei Jahre später auch auf der Bundesebene verwirklicht werden sollte.

Während der Regierungszeit der SPD/FDP-Koalition (1966-1980) war die Fraktion ausgesprochen aktiv, weil gegenüber dem Koalitionspartner und den von ihm geführten Ministerien, u.a. das wichtige Wirtschaftsministerium, eigene Vorstellungen entwickelt werden mussten. Zudem waren die späten 1960er und die 1970er Jahre stärker von Aufbruchhoffnungen und auch innerparteilichen Disputen geprägt. Eine Reihe von jüngeren Abgeordneten des linken Flügels, meist mit Juso-Vergangenheit, traten für eine konsequente Reformpolitik ein.

Das zentrale Handlungsfeld war neben der Wirtschaftspolitik (mit dem landesspezifischen Problem der Bewältigung des Strukturwandels in den altindustriellen Regionen) die Bildungspolitik. Außer dem raschen Auf- und Ausbau des Bildungssystems, der Hochschulen, Fachhochschulen und Gesamthochschulen, der mit zahlreichen Reformen verbunden war, trieb die Fraktion die Liberalisierung der Justiz, eine Verwaltungsreform und eine große kommunale Neuordnung voran, wobei es ihr auch gelang, die unterschiedlichen politischen Kräfte im Land zu einvernehmlichen Lösungen zu bewegen.

Die SPD in NRW wandelte sich in den 1970er Jahren langsam in ihrer Sozialstruktur und wurde mehr und mehr zu der bundesweit propagierten Volkspartei, vor allem aber zu einer breiten Arbeitnehmerpartei. Als Partei der Arbeitnehmerschaft und besonders auch protestantischer Teilmilieus konnte die SPD nicht nur in den Ruhrgebietsstädten absolute Mehrheiten ausbauen, sondern auch im Land schließlich 1980 die absolute Mehrheit erreichen. Bereits 1978 war Johannes Rau Heinz Kühn als Ministerpräsident nachgefolgt. Mit ihm als landesväterlicher Integrationsfigur gelang es der SPD in NRW, auch 1985 und 1990 die absolute Mehrheit im Lande zu verteidigen, wobei der SPD auch die Herausbildung regionaler Identitäten, die Abgrenzung von der Politik der seit 1982 in Bonn regierenden konservativ-liberalen Bundesregierung sowie die Schärfung des Profils der sozialdemokratischen Landespolitik zugute kamen.

In den 1980er Jahren hatte die SPD-Landtagsfraktion zahlreiche ökonomische Strukturprobleme des Landes zu lösen. An den langwierigen und schwierigen Diskussionen um die Bewältigung des Strukturwandels und die Vereinbarkeit von Arbeit und Umwelt, in NRW das Zusammenführen von "Malocher und Waldläufer", entzündeten sich viele Auseinandersetzungen. Und nur langsam fand die SPD zu einer eigenen Politik, die Ökonomie und Ökologie verbinden sollte.

In beiden Bänden gelingt Dieter Düding eine einfühlsame und kenntnisreiche Charakterisierung der zentralen Führungspersönlichkeiten der Landtagsfraktion und eine Analyse ihrer Denk- und Verhaltensweisen vor dem Hintergrund der komplexen landesparteilichen Strukturen.

Aufgrund seiner Forschungsperspektive überschätzt Dieter Düding allerdings die Bedeutung des Godesberger Programms. Wahlanalysen, kleinräumige Milieustudien und Untersuchungen über die Untergliederungen der nordrhein-westfälischen SPD zeigen, dass die überwiegend pragmatisch orientierte Landespartei, mit wenigen Ausnahmen, an der Godesberger Diskussion wenig interessiert war. Die gleichen Studien belegen die Erosion anderer politischer Lager zugunsten der Sozialdemokratie und zeigen die Landes-SPD als die Partei, der die Wähler aufgrund ihrer Bürgernähe am ehesten eine sozial gerechte Bewältigung des schwierigen Strukturwandels zutrauten. Allerdings verbanden viele Repräsentanten der Landes-SPD, von Heinz Kühn bis Johannes Rau, ihre Politik und ihren integrativen Politikstil mit dem "Symbol Godesberg".

Die Überschätzung des Konzepts einer sozialintegrativen Volkspartei korrespondiert allerdings mit der differenzierten Analyse der Aushandlungsmechanismen in der "Politikproduktion" einer sozialdemokratischen Landtagsfraktion. Ihre Abläufe und Strukturen sind dank der Bücher von Dieter Düding besser zu verstehen.

Stefan Goch, Gelsenkirchen



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