Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Andreas Wirsching, Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918-1933/39. Berlin und Paris im Vergleich, R. Oldenbourg Verlag, München 1999, X, 702 S., geb., 148 DM.

Seit dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme in Osteuropa ist in den Arbeiten von Mallmann, Weitz und anderen versucht worden, mit methodischen Zugriffen jenseits der eingefahrenen Bahnen der Organisations- und Programmgeschichte neues Licht auf den Links- und auch den Rechtsextremismus in der Weimarer Republik zu werfen. Wirschings voluminöse Studie bildet einen weiteren wichtigen Schritt in diesem Prozess; sie zeigt aber zugleich sehr deutlich die Grenzen des gewählten Ansatzes, einer Abwandlung der Totalitarismus-Theorie. Dies ist der eine herausragende und im Folgenden noch genauer zu diskutierende Aspekt seiner für den Druck erweiterten Habilitationsschrift, der andere ist der Vergleich mit Frankreich. Darin liegt der größte Vorzug des Buches, zumal Wirsching mit Hilfe seines Modells der "totalitären Bewegung" die Entwicklung in beiden Ländern bzw. Hauptstädten unter chronologischen wie systematischen Gesichtspunkten immer wieder direkt vergleicht und so Unterschiede wie Gemeinsamkeiten sehr klar herausarbeitet. Außer auf gedruckte Quellen wie die Memoirenliteratur stützt er sich insbesondere auf Polizeiberichte und den internen Schriftverkehr der kommunistischen Parteien, vor allem der KPD. Die KPD und ihr französisches Gegenstück, die PCF, die verschiedenen Gruppen der extremen Rechten in Frankreich sowie die NSDAP stehen im Mittelpunkt der Untersuchung, während etwa die Wehrverbände der Rechten in Deutschland thematisch nur gestreift werden.

Im Ergebnis zeigt sich, dass die KPD deutlich radikaler war als die PCF; für die NSDAP hebt Wirsching nicht nur ihre im Vergleich größere Gewaltbereitschaft hervor, sondern weist auch darauf hin, dass ihr prononcierter Antisemitismus keine französische Parallele besaß. Mehrere Faktoren waren für die besondere Radikalität in Deutschland bzw. Berlin verantwortlich. Die Hyperinflation und die Stabilisierungskrise, dann die Weltwirtschaftskrise trafen Deutschland mit weitaus größerer Wucht als die vergleichbaren Krisen das Nachbarland und erzeugten hier eine deutlich höhere Arbeitslosigkeit. Sie führte insbesondere der KPD eine beachtliche Zahl jüngerer, gewaltbereiter Arbeitsloser zu und verlieh ihr damit einen "desperatistischen" Einschlag. Während in Frankreich die Spaltung der Arbeiterbewegung bis 1919/20 vermieden wurde und ihre syndikalistische Färbung so stark blieb, dass die Kommunisten, wollten sie sich nicht völlig isolieren, die konkreten materiellen Anliegen der Arbeiterschaft im Auge behalten mussten, fielen in Deutschland die gewerkschaftliche und die politische Arbeiterbewegung weiter auseinander. Hinzu kam, dass die SPD seit der Novemberrevolution insbesondere in Preußen politische Machtpositionen eingenommen hatte, vor allem im Bereich der Polizei, und hier in eine scharfe Konfrontation mit den Kommunisten geriet, während sich in Frankreich Kommunisten wie Sozialisten konservativen Amtsträgern gegenübersahen und erst mit der Volksfrontregierung 1936 politische Schlüsselpositionen besetzen konnten. Überdies half der Sieg im Ersten Weltkrieg und eine in Kernpunkten unumstrittene politische Kultur, wie sie sich etwa in den Feiern zum 14. Juli manifestierte, Gegensätze zu überbrücken. Die Pariser Kommunisten erlebten daher ihren größten Mitgliederzuwachs in der Zeit des Volksfrontkurses, der mit einer bemerkenswerten Entideologisierung einherging. Umgekehrt erfuhr die deutsche KPD gerade im Zeichen eines extremen Konfrontationskurses seit der ultralinken Wende 1928/29 und dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise einen deutlichen Aufschwung. Diese Ergebnisse, die hier nur sehr verkürzt wiedergegeben werden können, werden insgesamt kaum wirklich überraschen, aber der Vergleich verleiht den wesentlichen Faktoren der jeweiligen Entwicklungen sehr klare Konturen.

Wirsching hebt freilich auch die Gemeinsamkeiten zwischen den kommunistischen Parteien beider Länder bzw. Hauptstädte hervor. Hier werden die Probleme seines Ansatzes deutlich. Den Idealtypus der "totalitären Bewegung" definiert er anhand von vier Merkmalen: einer den Freund-Feind-Gegensatz ins Zentrum stellenden Ideologie, einer sich prinzipiell dem Grundsatz der Einstimmigkeit unterwerfenden Partei, des Vorhandenseins einer paramilitärischen Organisation mit dem Leitbild des politischen Soldaten und schließlich einer Propaganda, die ein "virtuelles Meinungsmonopol" beansprucht. Diesem Idealtypus entsprachen zunächst, mit den skizzierten länderspezifischen Unterschieden, die Kommunisten, die damit eine entsprechende Reaktion auf der Rechten hervorriefen.

Wirsching nimmt hier die vielfach kritisierte Argumentationsfigur Ernst Noltes auf, setzt sich aber insofern eindeutig von ihm ab, als er auf die aus dem Motiv der Bolschewismus-Abwehr nicht ableitbaren antisemitischen Elemente des Nationalsozialismus hinweist und auch deutlich macht, dass in den gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten Anfang der dreißiger Jahre keine klare Trennungslinie zwischen Angreifern und Verteidigern zu ziehen war. Gleichwohl legt der gewählte Ansatz es zumindest nahe, in den Kommunisten die Hauptverantwortlichen für die politische Instabilität der Zwischenkriegszeit zu sehen. Das geht nicht zuletzt aus der Art und Weise hervor, wie der Verfasser den Bürgerkriegs-Begriffs verwendet hervor. Wirsching unterstreicht, dass Gewalt und in letzter Konsequenz der Bürgerkrieg von Beginn an zentrale Elemente des kommunistischen Politikverständnisses waren, woran sich auch in den vermeintlich ruhigen mittleren zwanziger Jahren nichts änderte. Dies habe ein verständliches Bedrohungsgefühl hervorgerufen und zur Bildung von Abwehrorganisationen geführt, welche sich dann in Deutschland in besonderer Weise radikalisiert hätten. Wirsching hat zweifellos Recht, wenn er betont, dass die kommunistischen Bürgerkriegsdrohungen ernst genommen werden mussten und mehr waren als bloße Rhetorik. Allerdings, und da setzt die Kritik des Rezensenten an, bildeten sie nur ein Element in einem komplexen, von Wirsching zu sehr vereinfachten Prozess wechselseitiger Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungen. Problematisch ist zunächst sein Parteibegriff. Er behandelt die KPD über weite Strecken so, als ob die Parteibasis die Bürgerkriegsrhetorik der Führung gleichsam verinnerlicht hätte. Autonomie billigt er der Basis nur insofern zu, als sie sich manchmal träger, manchmal in ihrer Gewaltbereitschaft auch aktivistischer verhielt, als es die Führung wollte. Autonomie im Sinn einer punktuellen Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten sieht Wirsching jedoch nicht. Die hohe Fluktuation innerhalb der KPD, in der sich Unzufriedenheit aus den verschiedensten Gründen niederschlug, wird von ihm nur im Rahmen der Nachfolgeorganisationen des Roten Frontkämpferbundes diskutiert.

Nicht recht überzeugt auch die These vom Anspruch auf ein "virtuelles Nachrichtenmonopol" als Teil des Konzepts der "totalitären Bewegung". Gewiss, die KPD versuchte, gegnerische Propaganda (und deren Träger) von ‚ihren‘ Vierteln in Berlin gewaltsam fernzuhalten, aber sie machte nicht den Versuch (wenn man von dem improvisierten Aufstandsversuch Anfang Januar 1919 absieht), ‚bürgerliche‘ Zeitungen oder den "Vorwärts" am Erscheinen zu hindern oder deren Verteilung in anderen Stadtteilen zu unterbinden. Insofern ‚verteidigte‘ sie ihre Viertel, wenn auch dort mit dem Mittel der Offensive.

Das Hauptproblem von Wirschings Ansatz betrifft seine im Prinzip richtige, aber unzureichend umgesetzte Absicht, die Wirkungen des kommunistischen Handelns in den Mittelpunkt zu rücken. Gewiss verstand sich die extreme Rechte als Vorkämpferin der "Ordnung" in einer Situation fundamentaler Bedrohung der Gesellschaft durch die Kommunisten – doch wer hätte dies ernsthaft bezweifelt? Nach Ansicht des Rezensenten müsste man eher danach fragen, aus welchen Gründen immer weitere Teile der gemäßigten Rechten bzw. des bürgerlich-nationalen Lagers überhaupt zur extremen Rechten überwechselten. Dazu aber genügt es nicht, die Bürgerkriegsszenarien der KPD maßstabsgetreu in bürgerliche Schreckensvisionen zu übersetzen. Vielmehr wäre erst einmal herauszuarbeiten, welche Diskrepanz zwischen der verbalen Militanz der Kommunisten und der tatsächlich für gewaltsame Aktionen mobilisierbaren Anhänger bestand. Wirsching deutet dies an, aber setzt sich nicht mit der Frage auseinander, was es denn für die Wahrnehmung des Kommunismus in der breiteren Öffentlichkeit bedeutete, dass die KPD nach dem Fiasko der "Märzaktion" und dem nächsten vom Oktober 1923 scharenweise Mitglieder verlor, sich immer weiter in ein selbstgezimmertes Ghetto zurückzog und auch in den Jahren nach 1929 nicht wirklich tief in die bisher unorganisierte oder sozialdemokratische Arbeiterschaft eindringen konnte. Hier wäre dann eben auch über die wachsende Ablehnung der Republik auf seiten der Rechten zu reden, die sich keineswegs nur aus der Angst vor den Kommunisten speiste, sondern ihre Wurzeln darüber hinaus in der politischen Landschaft des Kaiserreichs hatte. Klarer als Wirsching dies tut, müsste schließlich zwischen Erfahrungen im engeren Sinn und ihren späteren Deutungen unterschieden werden, was den Ersten Weltkrieg nicht umstandslos als eine universell "brutalisierende" Erfahrung erscheinen ließe. Wenn die in seinem Verlauf auftretenden sozialen Spannungen tatsächlich "totalitär umgeprägt" (S. 66) wurden, warum blieben die 'Massen' dann passiv, wenn die Kommunisten zum bewaffneten Aufstand aufriefen?

Diese knappen Bemerkungen können insgesamt sowohl die Verdienste von Wirschings Arbeit (zu denen auch eine Präzisierung des Faschismus-Begriffs gehört, S. 507ff., bes. S. 511) als auch die Kritik des Rezensenten nur andeuten. Dass die Studie an vielen Stellen zum Widerspruch und zum Weiterdenken anregt, ist kein geringes Verdienst. Künftige Studien zum politischen Extremismus der Zwischenkriegszeit werden sich mit ihr auseinandersetzen müssen, sie werden aber vermutlich etwas andere methodische Wege beschreiten.

Dirk Schumann, Atlanta



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