Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Dirk Walter, Antisemitische Kriminalität und Gewalt. Judenfeindschaft in der Weimarer Republik, J. H .W. Dietz/Nachf., Bonn 1999, 348 S., geb., 48 DM.

Trotz jahrzehntelanger intensiver Forschungen zur Politik-, Ideen- und Sozialgeschichte der Weimarer Republik wissen wir über den Antisemitismus in Deutschland zwischen 1918 und 1933 vergleichweise wenig. Dirk Walter untersucht in seiner Studie die Radikalisierung des Antisemitismus in diesem Zeitraum. Im Mittelpunkt stehen solche antisemitisch motivierten Taten - gewaltsame Angriffe auf Personen, Friedhofsschändungen, Beschädigungen von Synagogen sowie Beleidigungen und Verleumdungen -, die Gegenstand eines juristischen Verfahrens wurden. Walter geht von der These aus, dass der deutsche Antisemitismus nach der Revolution von 1918/19 deshalb eine neue, offene Gewalt ausdrücklich einschließende Form annahm, weil nun jeglicher Chance für eine gesetzliche "Lösung" der "Judenfrage" der Boden entzogen war und jeder Angriff auf Juden zugleich einen Angriff auf das "System" der Weimarer Demokratie darstellte. Damit wird allerdings das offenbare Dilemma, in dem sich der Antisemitismus nach dem Mord an Rathenau (auf den Walter nur am Rand eingeht) befand, nur bedingt erfasst: Gewalt, insbesondere derart mörderische, stieß zwar einerseits auf nicht unbeträchtliche Zustimmung, doch sie mobilisierte andererseits auch energischen Widerstand. Insofern blieben Versuche, dem Antisemitismus mit Gewaltakten zu einer breiteren politischen Basis zu verhelfen, in ihrer Wirkung ambivalent. Die Studie oszilliert zwischen Analysen von Fällen antisemitischer Gewalt und Kriminalität und der Diskussion politischer Reaktionen auf den Antisemitismus, ohne dass sich beides schlüssig ineinander fügt. Sie führt dennoch zu wichtigen neuen Erkenntnissen. Das liegt insbesondere an der breiten Quellengrundlage der Arbeit, die sich in erster Linie aus Polizei- und Gerichtsakten zusammensetzt, aber auch aus Schriftstücken des "Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" (CV), die der Verfasser in einem Moskauer Sonderarchiv durchsehen konnte.

Eindringlich schildert Walter die von einer Propagandaflut aus Wandplakaten und Flugblättern begleiteten antisemitischen Straßenkrawalle in Berlin und München 1919/20, die vielen kleinen Übergriffe der neuen SA in München zwischen 1920 und 1923 und die Ausschreitungen während des Hitler-Putsches 1923. Hier wird deutlich, dass in den unruhigen ersten Jahren der Weimarer Republik Juden (oder wen man dafür hielt) immer wieder zum Ziel von Hass und Gewalttätigkeiten wurden, die zwar nicht auf den Tod der Opfer abzielten, sie aber in permanente Angst und Unsicherheit versetzen sollten. Beispielsweise suchten Münchener SA-Männer immer wieder "jüdische" Lokale auf, um deren Gäste anzupöbeln und zu misshandeln. Eingehend behandelt Walter auch die gegen die Ostjuden gerichteten Maßnahmen des bayerischen Ministerpräsidenten Kahr 1920/21. Sie wirken in mancher Hinsicht - durch die Einrichtung von Lagern, die dort herrschenden Zustände und ihre öffentliche Wahrnehmung - wie ein Probelauf für die Einrichtung von Konzentrationslagern 1933. Detailliert ist auch dargestellt, wie bei den Geiselnahmen während des Hitler-Putsches explizit Jagd auf - willkürlich ausgesuchte - Juden (oder wen die Putschisten dafür hielten) gemacht wurde. Dies alles zeigt eine bisher kaum beachtete Kontinuität und Intensität des Antisemitismus in den Anfangsjahren der Weimarer Republik. Allerdings beschränkt sich der Verfasser hier auf Bayern, das aufgrund der politischen Verhältnisse nach 1920 einen Sonderfall darstellt, so dass die vorgestellten Ergebnisse, so eindringlich sie sind, nicht ganz überraschend wirken. Ähnliches gilt für Walters Schilderung der antisemitischen Ausschreitungen der SA im September 1931 in Berlin. Es wäre zu wünschen, dass die von Walter beschriebene "kleinen" Gewalt gegen Juden auch in anderen deutschen Regionen genauer untersucht wird.

Die "kleine" antisemitische Gewalt der mittleren Weimarer Jahre zeigte sich vor allem in Friedhofsschändungen, von denen zwischen 1923 und 1932 (nach den vom CV gesammelten Daten) im Durchschnitt alle zweieinhalb Wochen ein Friedhof betroffen war. Nach einem Aufsehen erregenden Fall 1928 im westfälischen Lüdinghausen kam es erstmals zu massiven Reaktionen in der Öffentlichkeit, bei denen sich auch politisch rechts von der Mitte stehende Prominente wie der Schriftstellen Walter von Molo mit schärfster Kritik zu Wort meldeten. Walter sieht dies einerseits als Beleg für die Chancen einer erfolgreichen Gegenwehr gegen den Antisemitismus (S.160-164), weist andererseits aber darauf hin, dass die Täter in die Nähe des Pathologischen gerückt und damit gleichsam entpolitisiert wurden (S.173). Nicht recht klar wird sein Urteil auch im Hinblick auf andere Formen der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus, woran der CV als schlagkräftige juristische Interessenvertretung beteiligt war. Während die bayerische Justiz 1919/20 gegen antisemitische Propaganda relativ hart vorging, indem sie sich an einem Grundsatzurteil des Reichsgerichts von 1899 orientierte, das § 130 StGB ("Aufreizung zum Klassenhaß") ausdrücklich auf solche Propaganda angewandt wissen wollte, ließ sie die für die Übergriffe im November 1923 Verantwortlichen ungeschoren davon kommen - diesen Widerspruch hätte man gerne genauer diskutiert gesehen. Die Friedhofsschändungen wiederum führten dann zu relativ harten Strafen, wenn die Täter Erwachsene waren; Jugendliche wurden deutlich milder bestraft. In etwa der Hälfte der Fälle lag eindeutig ein politischer Hintergrund vor. Selten zum Erfolg führten Klagen wegen Religionsbeschimpfung und wegen Beleidigung. Ob das daran lag, dass die einschlägigen Strafvorschriften tatsächlich schwierig auszulegen waren (ein ja auch heute noch bekanntes Problem) oder daran, dass viele Richter selbst eine Sympathie für den Antisemitismus hegten, bleibt ebenfalls offen.

War der gewaltbereite Antisemitismus nun ein Gradmesser für die Verbreitung des Antisemitismus in der Gesellschaft insgesamt? Nach Walters Ansicht profitierte der "seriöse" Antisemitismus von den Ausschreitungen und Übergriffen, weil er sich von ihnen distanzieren konnte - während Walter andererseits die Grenze zwischen beiden Formen allmählich verschwimmen sah (vgl. S.175, 186). Wie passt das zu seiner These, massive Übergriffe hätten zu einer deutlichen Antisemitismus-Kritik in der Öffentlichkeit geführt? Walter zitiert die Kreuzzeitung, die einerseits die Ausschreitungen auf dem Kurfürstendamm 1931 verurteilt, andererseits die NSDAP insgesamt in Schutz genommen habe. Er erwähnt etwa auch, dass nach der Ernennung Papens zum Reichskanzler der neue Staatssekretär der Reichskanzlei Planck dem CV auf dessen besorgte Nachfrage versichert habe, es gebe keine Pläne, die staatsbürgerliche Stellung der Juden zu verschlechtern, während Innenminister Gayl Maßnahmen gegen die Ostjuden andeutete. Solchen Äußerungen und ihrem Kontext hätte der Verfasser weiter nachgehen müssen. Insgesamt enthält seine Studie eine Reihe eindringlicher Schilderungen und manche neue Einsicht, an die künftige Untersuchungen anknüpfen werden. Sie bedürfen dann freilich - trotz der unleugbaren Schwierigkeiten, da man sich beim Antisemitismus eben auch im Bereich der "unspoken assumptions" bewegt - eines verbesserten methodischen Zugriffs.

Dirk Schumann, Atlanta



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