Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Wilfried Rudloff, Die Wohlfahrtsstadt. Kommunale Ernährungs-, Fürsorge- und Wohnungspolitik am Beispiel München 1910-1933, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1999, 1068 S., kart., 385 DM.

München gehörte in der Hochurbanisierungsphase vor dem Ersten Weltkrieg - mit Ausnahme der Wohnungs(bau)politik - nicht gerade zu den Vorzeigestädten sozialpolitischer Innovation. Dennoch ist es legitim, die bayerische Landeshauptstadt paradigmatisch als „Wohlfahrtsstadt" zu untersuchen. Diese vom Verfasser analog zum „Wohlfahrtsstaat" gewählte Bezeichnung erscheint angemessen, da auch München durch den Zwang der Verhältnisse nicht umhin kam, existenzielle Notlagen weiter Kreise seiner Bevölkerung zu lindern. Zwischen 1913 und 1932 stieg die Zahl der dauerhaft von der offenen Fürsorge Unterstützten von 14.900 auf 71.500 an. Und 1928 stand fast ein Viertel der unter 18-jährigen mit der städtischen Jugendfürsorge sowie vier Fünftel der Kinder bis zu einem Jahr mit der Säuglingsfürsorge in Verbindung. Wie kein anderer Haushaltsposten belastete nach Weltkrieg und Inflation die Wohlfahrtspflege den Kommunaletat der Stadt. Trotz der ungünstigen Auswirkungen der Erzbergerschen Finanzreform auf die Gemeindehaushalte, trotz der exorbitanten Steigerungsraten der Sozialausgaben konnte München seinen Schuldenstand in moderater Höhe halten. Dabei entwickelte sich die öffentliche Wohlfahrt zum Zentrum seiner Kommunalpolitik während der 1920er Jahre.

Bereits diese Fakten rechtfertigen den Zeitrahmen, den Rudloff für seine Studie gewählt hat. 1910 steht repräsentativ für die Vorkriegszeit, die Inkubationszeit der modernen Wohlfahrtsstadt. Mit dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft hingegen gewinnt die öffentliche Fürsorge eine ganz neue Qualität. Die Rückblenden in die Vorkriegszeit dienen dem Verfasser als Mittel, die vom Weltkrieg ausgelöste Dynamik hervorzuheben, die während der Weimarer Zeit zur Entfaltung der kommunalen Sozialpolitik führte. Die traditionelle Armenpflege, die sich im späten 19. Jahrhundert ausprägte, tritt in der Darstellung – zu Recht angesichts der gewählten Thematik – hinter den modernen Zweigen der Wohlfahrtsverwaltung zurück.

Perspektivisch gliedert sich die Studie in drei Untersuchungsebenen: Erstens: Die staatliche Gesetzgebung – d. h. im Kaiserreichs die Einzelstaaten und in der Weimarer Republik das Reich – formuliert Programme und Richtlinien. Sie bildet die Hintergrundfolie für die zweite Ebene, für die Vollzugsinstanzen der Fürsorge, von denen die Gemeindeverwaltung (in diesem Falle: München) in den Mittelpunkt gerückt wird. Gegenüber diesem Schwerpunkt fällt die Bearbeitung der dritten Untersuchungsebene, die der Klientelgruppen und ihrer Reaktion auf die öffentliche Fürsorge, ein wenig zurück. Die Reserviertheit, die der Verfasser gegenüber dem Sozialdisziplinierungskonzept zeigt, überzeugt angesichts seiner Feststellung, dass das vorliegende Quellenmaterial eine stichhaltige Überprüfung nicht zulässt. Als Träger der städtischen Fürsorgemaßnahmen profilierten sich einerseits die Kommunalverwaltung, andererseits (in subsidiärer Hinsicht) private Wohlfahrtsverbände. In den 1920er Jahren wurde ihre Arbeit zunehmend von Vertretern eines neuen Berufsfeldes, den Fürsorgerinnen, wahrgenommen, deren Fachkompetenz häufig genug mit den administrativen Funktionen der Verwaltungsbeamten in Konflikt geriet.

In den ersten Kapiteln seines Werks schildert Rudloff die Rahmenbedingungen für die Entwicklung Münchens zur Wohlfahrtsstadt. Einer Skizze von Wirtschaft, Gesellschaft und Verwaltung der Stadt schließt er eine Analyse der Institutionen des Fürsorgewesens an. Rudloff begründet die sich aufgrund des Aufgabenzuwachses und der Funktionendifferenzierung vollziehende Ämteraufteilung sowie den Wandel von der ehrenamtlichen zur berufsmäßigen Fürsorgetätigkeit. Schließlich legt er noch die normativen Voraussetzungen der städtischen Sozialpolitik dar, die München und die anderen bayerischen Kommunen erst 1916 dem im übrigen Reich geltenden Prinzip des Unterstützungswohnsitzes unterwarfen.

Die Darstellung der wohlfahrtspolitischen Aufgabenfelder folgt der Chronologie. In der Kriegs- und Nachkriegszeit stand die Lebensmittelversorgung im Vordergrund; erst 1920/1921 wurde die Zwangsbewirtschaftung schrittweise aufgehoben. Die Kriegsfürsorge für Soldatenfamilien und die Mitwirkung an der staatlichen Kriegsbeschädigtenhilfe nahm ebenfalls einen sehr hohen Rang ein. Die 1923 kumulierende Inflation verlangte einerseits die Unterstützung völlig mittellos gewordener Mittelstandsangehöriger. Andererseits stürzte sie die Wohlfahrtsverbände, welche vorwiegend die Anstaltsfürsorge betrieben, in eine tiefe Finanzkrise, die vor allem die Anstaltsinsassen lebensbedrohend traf. Mehr noch führte der Zusammenbruch der Krankenkassen zur Gefährdung von Leib und Leben bedürftiger Patienten.

Mit der Demobilisierung reduzierte sich die fortschrittliche Wohnungspolitik, die vor dem Weltkrieg auch in München eingesetzt hatte, auf eine reine Wohnungs-Zwangsbewirtschaftung. Zwischen Inflation und Weltwirtschaftskrise indes lebte besonders die Bauförderung von Kleinwohnungen wieder auf. Da sich die Privatbautätigkeit lange nicht erholen wollte, subventionierte die Stadt in traditioneller Weise gemeinnützige Baugesellschaften und Baugenossenschaften.

Die Währungsreform bewirkte auch im allgemeinen Fürsorgewesen – angestoßen durch die Gesetzgebung des Reiches – einen Neuanfang mit Schwerpunkten in der Jugendfürsorge und im Gesundheitswesen (Einrichtung des Schularztdienstes, Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit, der Tuberkulose sowie der Geschlechtskrankheiten u.a.). Rudloff stellt in diesem Zusammenhang fest, daß sich die Stadt von Vorgaben der Eugenik und Rassenhygiene freihielt, obwohl München seinerzeit eine Hochburg dieser biologistischen Disziplinen war. Die Weltwirtschaftskrise und die von ihr ausgelöste Massenarbeitslosigkeit zerstörten die finanziellen Ressourcen des städtischen Wohlfahrtssystems und führten schließlich zu seinem Zusammenbruch.

Der Verfasser legt mit seiner Veröffentlichung, einer von der Universität München angenommen Dissertation, ein gewichtiges Werk vor. Das ist durchaus wörtlich zu nehmen, denn die mehr als 1000 Seiten waren auf zwei Bände zu verteilen, und die fast 70 Seiten des Quellen- und Literaturverzeichnisses deuten auf enormen Forscherfleiß und -energie hin. Aber auch als wissenschaftliche Leistung kann die Untersuchung nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die Analysen überzeugen, der exemplarische Fall wird zutreffend in die allgemeine Entwicklung eingebettet und die quellengesättigte Darstellung gewinnt durch Konkretheit, die den trockenen Bürokratenstil vermeidet und manchmal sogar spannende Erzählpartien aufweist.

Nachdem die kommunale Leistungsverwaltung, und hierin besonders das Armenwesen, durch eine Fülle von Fallstudien und zusammenfassenden Überblicken weitgehend erschöpfend abgehandelt wurde, ist auch schon die Geschichte der modernen städtischen Wohlfahrtspolitik durch eine Reihe von Untersuchungen aufgehellt worden. Das Werk Rudloffs stellt für dieses Thema zwar nicht den ultimativen Abschluß dar, aber es setzt für spätere Untersuchungen Maßstäbe.

Wolfgang R. Krabbe, Münster



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