Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Michael Richter/Erich Sobeslavsky, Die Gruppe der 20. Gesellschaftlicher Aufbruch und politische Opposition in Dresden 1989/90, Verlag Böhlau, Köln 1999, 554 S., geb., 88 DM.

Die „Gruppe der 20" bestand aus Delegierten, die am 8. Oktober 1989 von einer Demonstration in Dresden bestimmt worden war, Gespräche mit dem Oberbürgermeister Berghofer zu führen. Sie bildete im Folgenden eine Gegengewalt zu den offiziellen staatlichen und kommunalen Institutionen und spielte noch bei der Kommunalwahl im Mai 1990 eine Rolle, bevor sie sich einen Monat später auflöste. Das hierzu vorliegende Buch besteht aus zwei etwa gleich umfangreichen Teilen: einer Darstellung und einer Quellenedition.

Deutlicher als bisher wird der faktische Zusammenhang zwischen den Botschaftsflüchtlingen und der Revolution in der DDR. Die Botschaftsflüchtlinge durften bekanntlich über die DDR, und das heißt über Dresden, in die Bundesrepublik ausreisen. Das führte zu Ansammlungen auf dem Dresdner Hauptbahnhof am 4. Oktober, die den Charakter von Demonstrationen annahmen. Sie wurden von der Volkspolizei mehrfach aufgelöst, bildeten sich jedoch immer wieder neu. Auf beiden Seiten wurde mit erheblicher Gewalt vorgegangen, von den Demonstranten wurde der Bahnhofsbereich schwer beschädigt, auch ein Volkspolizeiwagen in Brand gesteckt. Eine kämpfende Revolution als Alternative zur friedlichen deutete sich hier als Möglichkeit an. Die Ansammlungen änderten jedoch vom folgenden Tag an ihren Charakter, als nicht mehr in erster Linie die Ausreisewilligen, sondern eher Neugierige den Bahnhofsbereich aufsuchten. Die Demonstration wurde friedlicher. Am 7. Oktober setzte sie sich in Bewegung, es entstand also aus einer stationären Versammlung ein Demonstrationszug. Da das völlig spontan geschah, gab es keinen Plan über den Weg. Wurde der Zug irgendwo angehalten oder aufgelöst, bildete sich häufig an anderem Ort und zu anderer Zeit ein neuer. Am 8. Oktober schlug Hans Modrow, 1. Sekretär des Bezirks Dresden, dann entgegen der Berliner Linie einen Deeskalationskurs ein, indem er die Volkspolizei und die Stasi anwies, friedliche Demonstrationen gewähren zu lassen und keine Verhaftungen mehr vorzunehmen. Gleichzeitig entwickelte innerhalb einer Demonstration am 8. Oktober der Kaplan Frank Richter die Idee, zwischen den Demonstranten und dem Oberbürgermeister Berghofer einen Dialog herzustellen, wozu sich Berghofer bereit erklärte. Als Sprecher der Demonstranten wurden zwanzig Leute (genau genommen waren es 26) spontan und durch Zuruf delegiert, „gerade so wie Rousseau sich Demokratie im Stadtstaat Genf vorstellte" (S.58). Es konstituierte sich ein breiter Ausschnitt aus dem Volk, der zunächst anders zusammengesetzt war als die Basisgruppen der Bürgerbewegung, in denen die Kirche und die Intellektuellen dominierten. Am zahlreichsten waren Arbeiter vertreten, gefolgt von Lehrlingen, nur vier hatten einen Hochschul- oder Fachschulabschluss, sechs Frauen waren unter den Delegierten. Ähnlich spontan wurden die Diskussionspunkte formuliert. Zu ihnen gehörte u. a.: Freilassung der politischen Gefangenen, Reisefreiheit, Pressefreiheit, Wahlfreiheit und Zulassung des Neuen Forums. Der friedliche Verlauf dieser Demonstration, die Gesprächsbereitschaft der Dresdner SED und damit eine gewisse Legitimierung der Demonstration schufen möglicherweise einen entscheidenden Präzedenzfall für die Leipziger Demonstration am folgenden Tage, dem 9. Oktober.

Die SED befand sich in einem Dilemma, nachdem sich die Verständigung als Maxime durchgesetzt hatte. Wohl auch auf Grund des Nichteingreifens in Leipzig (was die Verfasser nicht thematisieren), wollte die Partei sich an die Spitze der Bewegung stellen, um sie, etwa durch die Diskussion kommunaler Probleme, abzubiegen und zu kanalisieren. Jedes Eingehen auf einen der wichtigeren Diskussionspunkte stellte aber die SED-Herrschaft sofort in Frage. Diese Ratlosigkeit wurde auch durch den Zusammenbruch von Illusionen bei den Herrschenden verstärkt. (Mielke fragte z. B in Dresden an, ob die Partei noch 51 % der Bevölkerung für sich habe und ob die Arbeiterklasse noch hinter ihr stehe (S.318) – als ob die SED jemals gewagt hätte, Mehrheitsentscheidungen zuzulassen, und als ob die Arbeiterklasse sie nicht spätestens seit dem 17. Juni abgelehnt hätte. Mielke hatte das anscheinend jedoch nicht wahrgenommen.)

Bereits die Tatsache der Gespräche stärkte die Demonstranten, so dass sich schon im Oktober 1989 in Dresden das ausbildete, was die Revolutionsforschung in Anlehnung an Lenin Doppelherrschaft nennt, nämlich das Neben- und Gegeneinander der alten Herrschaftsorgane, die typischerweise mit den progressivsten Vertretern des alten Regimes besetzt waren, und der Vertreter und Gruppen, die das alte Regime beseitigen wollen. Richter und Sobeslavsky verwenden den Begriff übrigens nicht. Ihre Legitimität stärkten die 20 durch die „Eine-Mark-Aktion", d. h. jeder, der den 20 sein Vertrauen aussprechen wollte, sollte eine Mark auf ein bestimmtes Konto einzahlen. Bis Mitte November kamen um 100.000 Mark, bis Mai/Juni 1990 über 300.000 Mark zusammen, die schließlich karitativen Zwecken zugeführt wurden.

Auch die „Gruppe der 20" war sich uneinig über die Zukunft. Als einziges klares Konzept erwies sich schließlich das des Anschlusses an die Bundesrepublik. Es blieb ohne Alternative, und die Gruppe löste sich im Juni 1990 auf, weil sie ihre Aufgabe als erfüllt ansah.

Richter und Sobeslavsky beschreiben diesen Ablauf auf hohem Reflexionsniveau, die wichtigen Details aufs Genaueste verfolgend, mit sehr dichten Belegen. Auch der Dokumententeil lässt keine Wünsche offen, er ist eher etwas zu ausführlich. Über das erste Rathausgespräch erfahren wir z. B. durch zwei Berichte Berghofers an Modrow, durch die Redevorlage Berghofers, durch zwei Aufzeichnungen von Mitgliedern der 20, außerdem durch ein offizielles Kommuniqué der Gruppe der 20, das am Abend in vier Dresdner Kirchen (vor insgesamt etwa 22 000 Zuhörern) verlesen wurde. Über diese Kirchenversammlungen gibt es sechs weitere Dokumente, darunter auch einen Artikel der CDU-Zeitung „Die Union", die als einzige über diese Versammlungen berichtete. Zahlreiche Berichte der Zeitzeugen sind in die Darstellung eingeflossen.

Die Publikation von Richter und Sobeslavsky lässt kaum Wünsche offen. Sie erhellt nicht nur den Ablauf der Revolution in Dresden, sie verdeutlicht auch, wie ihre Schubkraft wuchs, und sie demonstriert gleichzeitig die Ratlosigkeit der SED.

Gerhard Schildt, Braunschweig



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