Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Bianka Pietrow-Ennker, Rußlands »neue Menschen«. Die Entwicklung der Frauenbewegung von den Anfängen bis zur Oktoberrevolution, Verlag Campus, Frankfurt/Main 1999, kart., 498 S., 98 DM.

Die Frauenbewegung in den letzten Jahrzehnten des Zarenreichs war eine der erfolgreichsten ihrer Zeit. In keinem anderen Land errangen Frauen so schnell und zahlreich zuerst höhere Bildung mit akademischen Abschlüssen und 1917 schließlich das politische Wahlrecht. Zwar waren im rückständigen und autoritär regierten Russland für Frauen die Möglichkeiten gesellschaftspolitischen Engagements bis zu den Revolutionen des 20. Jahrhunderts vergleichsweise marginal, und entsprechend gering blieb der Organisationsgrad. Doch löst sich das vermeintliche Paradox auf, blickt man genauer auf die Wurzeln der Frauenbewegung und nicht nur auf die späten politischen Früchte und ihre teils bizarren, revolutionären Blüten. Prägend war die Initialzündung in der Aufbruchzeit der »Großen Reformen« unter Zar Alexander II., die nicht nur neue gesellschaftliche Freiräume entstehen ließen, sondern auch eine rege öffentliche Diskussion hierüber anstießen. Für die beteiligten Frauen begann damals ein tiefgreifender sozial- und mentalitätsgeschichtlicher Emanzipationsprozess, in dessen Verlauf sie neue öffentliche Rollen übernahmen und so allmählich ein überkommenes Geschlechterverständnis umdefinierten.

Zu diesem Ergebnis kommt die Konstanzer Historikerin Pietrow-Ennker in einer breit angelegten Untersuchung, der ersten deutschsprachigen Überblicksdarstellung zum Thema überhaupt. Darin werden die historischen Akteure aber keineswegs durch einen anonymen Strukturwandel ersetzt. Vielmehr analysiert die Autorin Typisches anhand von zwölf prominenten Lebensläufen aus der Pioniergeneration der Frauenbewegung. Diese zwischen 1835 und 1852 geborenen Frauen aus unterschiedlichen Sozialmilieus, mit verschiedenen Werdegängen und politischen Überzeugungen haben den Prozess der Traditionsauflösung und eigenen Umorientierung in Autobiografien übersetzt. Ihre Sozialisation in patriarchalischen, überwiegend adeligen Familien, ihre eher zufälligen Bildungschancen und weichenstellenden Kontakte mit progressiven Adelsintellektuellen, ihre politische Sensibilisierung und Berufswahl in der Reformära, die nachfolgenden Karrieren und ihre Leitbildwirkung - diese individuell unterschiedlichen Lebensetappen sind mit verallgemeinernden Informationskapiteln über Adelskultur, Frauenbildung oder Berufsbilder verwoben. Ein Diskursideal der 1860/70er Jahre: die erwerbstätige, gebildete, selbstbewusste und eigenständige Frau, dieses Ideal war zwar ein halbes Jahrhundert später noch keine Selbstverständlichkeit, längst aber auch keine provozierende Ausnahme mehr. Dies erklärt zusammen mit der rechtlichen Diskriminierung die auffällige Politisierung des gesellschaftlichen Engagements von Frauen nach 1905, das zuvor auf karitative oder berufliche Vereinigungen beschränkt geblieben war.

Demnach wird die Frauenbewegung, die sich gegen männliche Konkurrenz und weitgehend außerhalb staatlicher Institutionen Bildung und Berufe erschloss, vor allem als ein kollektiver Identitätswandel untersucht. Die ausgesuchten Protagonistinnen der Studie waren zweifellos beispielhafte Lebenswege gegangen, ob als Publizistin wie Mar’ja Trubnikova, als professionelle Pädagogin wie Elizaveta Vodovozova, als Akademikerin wie Nadežda Suslova, die erste Dr. med. überhaupt, oder als Revolutionärin wie Vera Figner. Für die fragmentarische Sozialgeschichte der russischen intelligencija sind dies willkommene Ergänzungen. Es fragt sich jedoch, inwiefern diese vier Intelligencija-Betätigungen oder wie lange die wohlgeborenen Töchter der 1840er Jahre als typisch für »die« russische Frauenbewegung vor 1917 gelten können. So plausibel für die Pionierinnen der Zusammenhalt aus den Debatten und (übrigens keineswegs neuartigen) Zirkeln war, so überzeugend Pietrow-Ennker Bildung als Mobilisierungsferment herausarbeitet, über die nachwachsenden Generationen erfährt man zu wenig. Überzeichnet wirkt daher der Einfluss der zuerst in der »nihilistischen« Gegenkultur der 1860er Jahre demonstrierten weiblichen Selbstbestimmung. Doch mit diesem Gründungsmythos arbeitet das Buch die Entstehung der Frauenbewegung in dem Reformklima nach dem Krimkrieg und die Rückwirkung der damals erstmals öffentlich diskutierten »Frauenfrage« auf eine selbstbewusster auftretende Gesellschaft überzeugend heraus.
Andreas Renner, Bonn



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