Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Walter Mühlhausen/Gerhard Papke (Hrsg.), Kommunalpolitik im Ersten Weltkrieg: Die Tagebücher Erich Koch-Wesers 1914 bis 1918, R. Oldenbourg Verlag, München, 1999, 250 S., brosch., 58 DM.

An Tagebüchern und Memoiren aus großbürgerlichen Kreisen über die Zeit des Ersten Weltkriegs herrscht nicht gerade ein Mangel. Es ist die Person des Autors, die diese Edition interessant macht. Erich Koch-Weser war in der Weimarer Republik einer der führenden Köpfe der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei, als deren Vorsitzender er sechs Jahre lang fungierte. Zur Zeit des Kapp-Putsches amtierte er als Reichsinnenminister, gegen Ende der zwanziger Jahre als Justizminister. Seine Tagebücher aus dieser Zeit werden von den Herausgebern zur Edition vorbereitet. Der bereits erschienene Band umfaßt die Epoche, als Koch-Weser Oberbürgermeister von Kassel war - eine Zeit, in der er sich vor allem als Sprecher der Kommunen und des liberalen städtischen Bürgertums in Sachen der Lebensmittelversorgung während des Krieges einen Namen machte.

Über Lebensmittelversorgung erfährt man freilich hier recht wenig. Allein die Tagebuchnotizen seit 1915 enthalten darüber einiges, aber sie bilden lediglich einen unverhältnismäßig kleinen Teil der ungekürzt herausgegebenen Aufzeichnungen. Wie viele seiner Zeitgenossen begann Koch-Weser mit ihnen kurz nach Kriegsausbruch und schrieb dann bis Ende Oktober 1914 fast täglich, danach jedoch nur noch sporadisch. Vieles lernt man von dem nationalen Dünkel kennen, von dem das deutsche Großbürgertum getränkt war, und der auch mit dem Verblassen des „Augusterlebnisses" nicht verschwand. Es ist eine eigene, fast völlig von anderen Schichten abgeschlossene Welt, in der Koch-Weser sich trotz seines öffentlichen Amts bewegt - eine Welt, in der Professoren, hohe Beamte, Industrielle und Angehörige vaterländischer Frauenvereine unter sich bleiben, und in der geradezu hymnische Loblieder auf die Schönheit der deutschen Uniformen (S. 92f) ganz und gar nichts ungewöhnliches sind. Ein einziges Mal eröffnet sich ein Blick über diesen geschlossenen Kreis hinaus, als der Tagebuchschreiber berichtet, wie er neben einer „einfachen Frau" öffentlich angeschlagene Nachrichten über die Gefangennahme einer großen Zahl englischer Soldaten durch deutsche Truppen las, und den Kommentar der Frau wiedergibt: „Ja, die lassen sich ja immer gleich gefangen nehmen, aber unsere, die geben ja nicht nach, bis sie totgeschossen werden." (S. 76)

Sonst aber bieten die Aufzeichnungen vor allem Material über eine Sicht der Kriegsereignisse, die sich von dieser nüchternen Betrachtung so frappierend abhebt. Besonders auffällig ist das etwa in den Notizen Koch-Wesers über eine „Liebesgabenfahrt" an die Westfront im Dezember 1914, die durch die Brille des Betrachters weitgehend den Charakter eines Reiseziels für Erlebnistourismus gewinnt. Es wäre kulturhistorisch lohnend, diesen besonderen bürgerlichen Blick auf den Krieg näher mit dem der Unterschichten zu vergleichen, die im Mittelpunkt einiger neuerer Studien zum Kriegserlebnis gestanden haben.

Sozial- und politikgeschichtlich gibt die Edition zweierlei Aufschlüsse. Zum einen wollte der später linksliberale Parteiführer Koch-Weser der SPD zwar durch politische, nicht aber durch wirtschaftliche Reformen entgegenkommen. Zum anderen waren die Gegensätze des liberalen städtischen Bürgertums zum Adel mindestens ebenso groß wie die zur Arbeiterbewegung, und wurden während des Krieges noch größer. Trotz aller Betonung nationaler Einheit machte sich in den Kreisen, in denen Koch-Weser verkehrte, eine immer mehr wachsende Enttäuschung und Empörung weniger über die Selbstsucht als über die administrative Unfähigkeit der alten Adelseliten breit. Das alles wird in einer grundsoliden Edition präsentiert, der allerdings leider ein Sachregister fehlt, was die systematische Auswertung durch die Forschung erschweren wird.

Christoph Nonn, Köln



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