Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Bernhard R. Kroener/Rolf-Dieter Müller/Hans Umbreit,
Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg.
Band 5: Organisation und Mobilisierung des deutschen Machtbereichs.
Zweiter Halbband: Kriegsverwaltung, Wirtschaft und personelle Ressourcen 1942-1944/45, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1999, 1082 S., geb., 78 DM.

Innerhalb des zehnbändigen Gesamtwerks enthält dieser Halbband den zweiten Teil der überaus gewichtigen Darstellung der Okkupationspolitik, der Wirtschaftsentwicklung und -verwaltung und der Verteilung und Verwaltung der personellen Ressourcen im Zweiten Weltkrieg. Ein dritter, abschließender Teil in einem späteren Band wird die Thematik für die Endphase bzw. die letzten Monate des Krieges behandeln. Die Zäsur zwischen diesem und dem vorangegangenen Halbband wird durch die hochkritische militärische und wirtschaftliche Lage Ende 1941/Anfang 1942 markiert (schwere Niederlage vor Moskau; Kriegseintritt der USA). Mit Erscheinen des vorliegenden Bandes bestätigt es sich, dass wir mit dem Gesamtwerk über eine der wenigen großen Weltkriegsdarstellungen verfügen, die den genannten Themen, insbesondere der Wirtschaftsentwicklung, einen so umfänglichen Platz einräumen. Zudem ist es meines Wissens die einzige Darstellung, die eine gründliche Bilanz der personellen Kräfte des NS-Reiches und ihrer "Bewirtschaftung" für den Krieg vornimmt. Die drei Autoren haben elf lange Jahre zur Vollendung des Bandes gebraucht; aber ihre Forschungsergebnisse rechtfertigen voll und ganz ihre Arbeit.

Gegenüber dem vorangegangenen Halbband hebt sich der vorliegende in zwei Punkten deutlich ab, was in beiden Fällen einen großen Gewinn darstellt: Die Erörterungen der Fehler, Unterlassungen, Desorganisation, kurz: der falschen Politik der involvierten Personen und Institutionen, darunter vorrangig der Wehrmacht, treten weitgehend zurück gegenüber klaren Urteilen über die hybriden Ziele und Verbrechen des kriegführenden Deutschlands sowie über seine von vornherein zum Scheitern verurteilte Kriegs- und Eroberungspolitik. Ferner ist, wenn man von der "Zusammenfassung" am Bandende absieht, nur noch wenig von der auffällig hitlerzentristischen Darstellung im vorhergegangenen Band zu spüren.

Im ersten Teil gibt Umbreit ("Die deutsche Herrschaft in den besetzten Gebieten") zuerst einen Überblick über "Hitlers Europa", geordnet nach okkupierten, annektierten und verbündeten Ländern, und skizziert neue Tendenzen und Strukturveränderungen in der deutschen Besatzungs- und Europapolitik. Im zweiten Kapitel untersucht er im Einzelnen die wichtigsten Tätigkeits- und Problemfelder jener Politik, darunter auch ausführlich die "Bekämpfung der Partisanen" an der "zweiten Front" und die wirtschaftliche Ausbeutung der besetzten Gebiete, darüber hinaus die Radikalisierung der Unterdrückungsmaßnahmen, die Verschleppung von Arbeitskräften und die "Umsiedlungen". In zwei gesonderten Abschnitten behandelt er abschließend den an Juden, Sinti und Roma verübten Genozid und die Dichotomie von Kollaboration und Widerstand. So gedrängt die Darstellung dieses großen Untersuchungsfeldes auch ist, legt Umbreit doch eine materialreiche und eindrucksvolle Arbeit vor. Besondere Stärken sehe ich in der Behandlung des Partisanenkriegs und insgesamt der Verbrechen der Wehrmacht (UdSSR; Südosteuropa; Italien), ferner des "Hungerns unter deutscher Besatzung". Den Kunstraub der Deutschen in den besetzten Gebieten hätte man aber wohl besser nicht unter "Das Scheitern der kulturellen Hegemonie" (?) abhandeln sollen.

Als vorzüglicher Kenner der deutschen Besatzungsverwaltung hebt Umbreit immer wieder die mangelnde Einheitlichkeit und den Kompetenzendschungel in dieser Verwaltung hervor. Für den behandelten Zeitraum spricht er immerhin von einer "Vereinfachung der Besatzungsverwaltungen" (im Plural); dies erzeugt den wohl doch schiefen Eindruck einer allgemeinen Entwicklungstendenz, wo es sich, dem Material nach zu urteilen, meistens nur um eine "Ausdünnung" handelte.

Ein Problem für den Leser stellt die Aufsplitterung des Ganzen in zwei unterschiedlich (länderweise und sachlich) gegliederte Hauptabschnitte (Kapitel) dar, wodurch mancherlei Überschneidungen im historischen Ablauf entstehen; zudem muss er oft, etwa um die Besatzungspolitik in der UdSSR und insbesondere den "Generalplan Ost" zu studieren, auf Band 5.1 und sogar auf Band 4 des Gesamtwerks zurückgreifen. Auch innerhalb der drei großen Teile des vorliegenden Bandes lässt die Abstimmung verschiedener Themen zu wünschen übrig, beispielsweise im Falle der Verschleppung der ungarischen Juden nach Auschwitz bzw. zur Zwangsarbeit (S. 85; ungenau S. 407). Ein Sachregister fehlt. Unbestritten ist die enorme Quellen- und Literaturkenntnis des Autors. Doch scheint mir, dass die ältere Literatur (Dallin; Krannhals; Meissner; Eisenblätter usw.) sehr dominant und nicht immer kritisch genug zitiert wird. Dagegen werden bedeutende neue Titel und Quellenwerke wie die Reihen "Europa unterm Hakenkreuz" und "Nationalsozialistische Besatzungspolitik in Europa 1939-1945" wenig oder gar nicht genutzt. Wünschenswert wäre es ferner, dass archivalische Quellenhinweise nicht so oft ohne Datierung blieben.

Der Autor des zweiten Teils ("Albert Speer und die Rüstungspolitik im totalen Krieg") ist Rolf-Dieter Müller, der schon in den Bänden 4 und 5.1 die wirtschafts- und rüstungswirtschaftliche Thematik bis Ende 1941 behandelt hat. Im vorliegenden Band nimmt allein dieser Teil 500 Seiten ein (S. 275-773). Die große Leistung zu würdigen, die hierin steckt, fällt dem Rezensenten gleichermaßen leicht wie schwer - weil er nämlich selber umfängliche Publikationen zum Thema vorgelegt hat und sowohl starke Übereinstimmungen in Darstellung und Auffassung feststellt als aber auch ein besonderes aufmerksam-kritisches Verhältnis zu der vorliegenden Arbeit hat. Die überwältigende Fülle an Material gliedert Müller vor allem in zwei große thematische Blöcke: die Entwicklung des kriegswirtschaftlichen Regulierungsapparats mit seinen Befehls- und Lenkungsstrukturen und die Produktions-(und Verlust-)entwicklung in der Rüstungs- und Kriegsproduktion selbst; letztgenannte mit z.T. ausführlichen, exkursähnlichen Abschnitten über Europaplanung, Außenhandel und technische bzw. Forschungsprobleme der Rüstung. Den Abschluß bildet ein Kapitel über die Wendung zum Zusammenbruch der Kriegswirtschaft und Rüstungsindustrie im Jahre 1944. In einem der später folgenden Bände erst soll die Endphase 1945 behandelt werden.

Um es vorwegzunehmen: Auch in diesem Teil ist die Gliederung nicht ohne Tücken für den Leser. Müller verfolgt in den zahlreichen Sachabschnitten das jeweilige Thema durchgehend von 1942 bis 1944. Das schafft zwar (wenn auch nicht immer) Zusammenhang in der Sache, aber auch Überschneidungen und verwirrende Mehrfacherwähnungen (etwa: Führungskrise im Frühjahr 1944; Jägerstab u.a.). Noch schwerer, glaube ich, wiegt, dass die tiefgreifenden Einschnitte undeutlich bleiben, die der Wandel der militärstrategischen Lage der Rüstung und Kriegswirtschaft als Ganzes aufzwang; besonders der Übergang von der Offensiv- zur Defensivstrategie im Laufe des Jahres 1943 und die neue Qualität, die der Luftkrieg gegen die deutsche Wirtschaft Mitte 1944 annahm.

Die sich wandelnden Strukturen und die beherrschenden Persönlichkeiten der Rüstung und Kriegsproduktion stellt uns Müller in zwei großen Kapiteln (I und II; 140 Seiten) eindrücklich und in frischem Stil vor. Wichtig erscheint insbesondere, dass die "Ära Speer" hier klarer als bisher bei anderen Autoren als - durchaus umkämpfte - Ablösung der "Kommandowirtschaft" der vorher maßgeblichen Wehrmachtsorgane dargestellt wird: als ein Prozeß, der, obwohl schon von Fritz Todt vorbereitet, sich tatsächlich erst binnen zweieinhalb Jahren vollendete, zu einem Zeitpunkt, als es mit der Gesamtwirtschaft schon bergab ging. Der Autor verwendet hier auch meines Wissens erstmals erschlossene Quellen, darunter solche aus Moskauer Archiven.

Zu kurz kommt in diesen Kapiteln wie im ganzen zweiten Teil die inzwischen von anderen Autoren gründlich untersuchte Rolle der deutschen Industrie und ihrer "Selbstverantwortung", die das solide Fundament der gesamten Rüstungserfolge jener Jahre bildete. Dieser Apparat, bestehend aus Tausenden von Industriellen, an der Spitze die Vertreter der führenden Großkonzerne, war seinerseits erste Bedingung für die Machtstellung des Ministers und stützte ihn zuverlässig auch in kritischen Phasen. Dass die führenden Köpfe der deutschen Wirtschaftselite in diesem Apparat mit hohem Engagement bei der Sache waren, ist nicht nur mit den enormen Profiten zu erklären, die gerade der Rüstungsminister ihnen mit besonderem Eifer sicherte: War es doch nicht nur Hitlers, sondern auch ihr Krieg, ihr neuerlicher "Griff nach der Weltmacht". Müller ist schlecht beraten, wenn er aus lauter Abneigung gegen "marxistische Interpretationen", denen er sogar unterstellt, ihnen zufolge sei Speer nur "Marionette", "Handlanger" des Großkapitals gewesen (S. 277 ff.; S. 318 u. passim), die Gesamtstruktur der Rüstungslenkung in diesem wichtigen Punkt verkürzt und verzeichnet. Nebenbei verführt ihn das dazu, die Rolle Speers und anderer, etwa Hans Kehrls, überzubewerten und ihre Tätigkeit als handelnde Personen/Täter mit Epitheta wie "vernünftig", "sachlich", "energisch" zu versehen, ja geradezu zu psychologisieren. Da verringert sich zwangsläufig die notwendige Distanz des Historikers zu seinem Gegenstand, der sich ja in diesem Fall in Kriegsverbrechern hohen und höchsten Grades personifiziert.

Das dritte und vierte Kapitel des zweiten Teils bieten in dieser Reichhaltigkeit kaum je anzutreffendes Material zur deutschen Rüstung und ihren wirtschaftlichen Voraussetzungen. Hier können nur einige besonders interessante Themen genannt werden:

- Das Problem der Prioritäten und insbesondere des Anteils der drei Wehrmachtteile an der Rüstung. Hier handelte es sich um eines der kompliziertesten Probleme der Rüstung, zumal da eine dem Krieg insgesamt zugrunde zu legende, zwingende Strategie seit 1941 nicht mehr existierte und die Initiative an die Alliierten überging. Müller zeichnet hier ein entsprechend düsteres Bild von den deutschen Fehlplanungen, Engpässen, organisatorischen Mängeln.

- Die materiellen Verluste der Wehrmacht werden ausführlich belegt und beziffert. Die deutsche Rüstung ersetzte sie zwar zahlenmäßig bis etwa Mitte 1944 (Heer und Luftwaffe); aber die Überlegenheit der Rüstungen und Ressourcen der Alliierten wuchs in für die Deutschen hoffnungslose Dimensionen.

- Sehr aufschlußreich sind die Angaben und Erörterungen über das Verhältnis der Wehrmacht zur Waffentechnik und zur technischen Wehrforschung. Auch hier stellt Müller Mangel an Weitsicht, schlüssigen Langzeitvorstellungen und ein Durcheinander der Institutionen und Kompetenzen fest.

Ein reichliches Fünftel des gesamten Textes von Kapitel 3 und 4 (Faktoren und Fakten der Rüstungsproduktion) ist den "Wunderwaffen" gewidmet, die damit ein übermäßig großes Gewicht erhalten. Im Mittelpunkt steht hier für Müller die ihm zufolge einzige überlegene Superwaffe des Regimes, das Nervengas Tabun, dieses "Mittel der allerletzten Entscheidung" (Otto Ambros). So interessant die breite und kenntnisreiche Erörterung des ganzen Themas ist, so steht sie - übrigens ebenso wie der mitten im Krieg dafür betriebene Aufwand an Schöpferkraft und materiellen Ressourcen - in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Bedeutung und Wirkung dieser Waffen. Wenn der Autor das Zögern der deutschen Führung, voran Hitlers, vor der Hochrüstung und der Anwendung bei den besonders massenmörderischen "Wunderwaffen" - dem Giftgas Tabun und den bakteriologischen Waffen - diskutiert, so bleibt angesichts seines eigenen unentschiedenen Urteils über Hitlers "starre Haltung" (S. 720 ff.) auch Irritation beim Leser zurück: War der Nichteinsatz dieser Waffen aus Furcht oder "Abneigung" nun ein Segen für die Menschen - oder soll er, beruhend auf der "Irrationalität" Hitlers und auf der "Systemschwäche des Führerstaates", als verpaßte Gelegenheit gedeutet werden?

Großes Gewicht hat selbstverständlich in Müllers Darstellung auch die Rüstung in den hauptsächlichen Kategorien (Panzer, Waffen, Munition, Flugzeuge, U-Boote). Mitunter hätte hier eine schärfer konzentrierte und ausführlichere Darstellung gutgetan. Wünschenswert erscheint in diesem Zusammenhang die stärkere Berücksichtigung des mitunter kritisch zu wertenden, insgesamt aber unverzichtbaren Zahlenwerks des United States Strategic Bombing Service (USSBS), etwa des Aircraft Division Industry Report (um nur einen von vielen zu nennen) und sich darauf stützender neuer Veröffentlichungen.

Im dritten Teil ("Menschenbewirtschaftung", Bevölkerungsverteilung und personelle Rüstung in der zweiten Kriegshälfte (1942-1944)) behandelt Kroener in zwei Kapiteln (mit der Zäsur etwa im Mai/Juni 1943) jeweils die Lage und die Maßnahmen im zivilen Sektor und die Entwicklung der personellen Wehrmachtstärke, der Verluste, der Ersatzgestellung und der Aushilfen auf diesem Gebiet. Auch dieser Teil ist enorm materialreich und enthält beeindruckende Forschungsergebnisse. Da Kroener gewissermaßen nachholend die bei Müller ausgesparte Thematik der deutschen und ausländischen Arbeitskräfte behandelt, ist der Text stellenweise sehr gedrängt, und seine Schwerpunkte sind nicht von gleichmäßiger Informationsdichte, besonders was das erste Kapitel bzw. das Jahr 1942 betrifft. Hier gibt es allerdings auch Überschneidungen mit Müller und anderweitigen Forschungen. Den Schwerpunkt bildet eindeutig das Jahr 1943.

Im ersten Kapitel wird schon die grundsätzliche Kluft zwischen den deutschen Kriegszielen und militärischen Ambitionen auf der einen, dem Menschenpotential und den Möglichkeiten des Regimes, es "total" zu mobilisieren, auf der anderen Seite herausgearbeitet. In diesem Zusammenhang betrachtet Kroener durchaus nüchtern und richtig das ambivalente Verhältnis zwischen Rüstungsminister Speer und dem "Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz" Sauckel. Es wird in der Literatur vielfach überflüssig dramatisiert, um Speer den Nimbus eines "unpolitischen" großen Organisators zu geben. Erregend und erschütternd sind die Berichte über die Zwangsarbeit, besonders der Sowjetbürger. Nicht qualitativ, aber quantitativ überproportioniert erscheint die beeindruckende Schilderung der Zwangsarbeit von Juden (S. 782 ff.; 815 ff.). Ein gelungenes Kabinettstück ist der ausführliche sozialgeschichtliche "Exkurs" über die Entwicklung des Offizierkorps (1942-1945).

Das zweite Kapitel zeigt das "Dilemma des Menschenmangels" (Jodl) auf seinem Höhepunkt im ersten Halbjahr 1944 und die unablässigen und zunehmend verzweifelten Lösungsversuche. Angesichts der dort aufgeführten grundlegenden Fakten und Zahlen über die Wehrmachtverluste versteht man den "Geist des 20. Juli" besser, der damals eine größere Zahl einsichtigerer Offiziere erfasste. Die sogenannte Speer-Sauckel-Kontroverse der Zeit von Januar bis Juli 1944 kommt ausführlich zur Sprache. Sie wird allerdings durchweg aus Archivquellen dokumentiert, obwohl wesentliche Quellen leichter in den Bänden des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses zugänglich sind. Als Lapsus sei hier erwähnt, dass, Kroener zufolge, der Kaukasus "außerhalb der deutschen Interessensphäre" gelegen habe (S. 987).

Unbeschadet der großen Leistung der Autoren sei vom Standpunkt des geduldigen Lesers doch vermerkt, dass es ihm, sogar wenn er fachmännisch eingestimmt ist, manches abverlangt: 2000 große Druckseiten (Bände 5.1. und 5.2.) zu den hier behandelten Themen durchzuarbeiten - und noch einige hundert mehr in den vorausgegangenen Bänden. Es sollte, so wäre zu wünschen, dem Militärgeschichtlichen Forschungsamt gelingen, aus dieser Fülle heraus leserfreundlichere, überschaubarere, kleinere Publikationen zu gestalten. die die vielen Interessenten, darunter Geschichtsstudenten als Pflichtlektüre, mit Spannung lesen.

Dietrich Eichholtz, Borkheide



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