Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Eberhard Kolb/Ludwig Richter (Bearb.), Nationalliberalismus in der Weimarer Republik. Die Führungsgremien der Deutschen Volkspartei 1918-1933, Verlag Droste, Düsseldorf 1999, 72* u. 1323 S., geb., 398 DM.

Sicherlich ist es eine unzureichende Kennzeichnung, wenn man die Deutsche Volkspartei (DVP) als die Partei Gustav Stresemanns bezeichnet. Aber es ist nicht von ungefähr, dass sein Namen im Register der vorliegenden Bände nicht nachgewiesen wird. Man hätte sonst eine kaum überschaubare Liste von Seitenangaben aufführen müssen. Allerdings wird in der Einleitung der Edition eine weitverbreitete Auffassung detailliert widerlegt, derzufolge die Gründung der Deutschen Volkspartei darauf zurückzuführen sei, dass Stresemann sich mit ihr eine Plattform für die Fortsetzung seines eigenen politischen Wirkens geschaffen habe. Ohne diese Neugründung hätte ihm gedroht, innerhalb des sich neu organisierenden Liberalismus durch die Kritiker seiner expansionistischen Kriegszielpolitik ausgeschaltet zu werden. Gegen diese These wird deutlich gemacht, dass Stresemann selbst energisch auf den Zusammenschluss aller liberalen Kräfte drängte und dass er durchaus bereit war, zur Erreichung dieses Ziels wenigstens zeitweise seine eigenen politischen Aktivitäten zurückzustellen. Hier ist nicht der Ort, die betreffenden Darlegungen der Herausgeber im Einzelnen wiederzugeben, denn eine Fülle von sachlichen und persönlichen Konstellationen und Ereignissen wirkten zusammen, die DVP als Traditionsträger des deutschen Nationalliberalismus entstehen zu lassen. Allerdings bietet schon die Vorstellung, dass Stresemann sich in späteren Jahren mit seiner Politik auf einen geeinten und starken liberalen Block hätte stützen können, eine Versuchung zu Überlegungen, welche Alternative sich daraus gegenüber der tatsächlichen Entwicklung der Weimarer Republik hätten ergeben können.

Die in den beiden umfangreichen Halbbänden der allgemeinen Forschung zugänglich gemachten Dokumente – Protokolle und Aufzeichnungen über die Sitzungen führender Organe der Partei, vor allem des Geschäftsführenden Ausschusses, des Zentralvorstandes und des Reichsausschusses – stammen aus dem Nachlass des letzten DVP-Vorsitzenden, Eduard Dingeldey. Sie gelangten 1956 durch Schenkung seiner Witwe an das Bundesarchiv Koblenz. Die Dokumente bilden allerdings nur einen lückenhaften Bestand, da Dingeldeys Nachlass infolge unglücklicher Umstände noch nach Kriegsende große Verluste erlitt. Zur Ausfüllung der Lücken haben die Herausgeber Dokumente aus dem Nachlass Stresemanns und anderer Provenienz eingeschoben bzw. Sitzungsberichte aus der Nationalliberalen Correspondenz. Sie waren naturgemäß zur aktuellen Information einer breiteren Öffentlichkeit gedacht und in Form und Inhalt entsprechend gestaltet. In den Fällen, wo beide Überlieferungen vorliegen, hilft ein Vergleich der originalen stenografischen Berichte mit den zeitgenössischen Veröffentlichungen abschätzen, wie viele Aufschlüsse über die interne Parteidiskussion durch die Dezimierung des Dingeldey-Nachlasses verloren gegangen sind.

Unter Einbeziehung der Berichte der Nationalliberalen Correspondenz gelang es den Herausgebern zwar, eine durchlaufende Reihe von Dokumenten zusammenzustellen, doch waren dabei Schwankungen im Umfang und in der Authentizität der Dokumentation im Hinblick sowohl auf die einzelnen Parteiorgane als auch auf die Meinungsbildung in der Gesamtheit der Parteiführung nicht zu vermeiden. Wichtig für die jeweilige Gewichtung der Dokumente ist daher, dass in der Einleitung das Verhältniss der verschiedenen Führungsorgane der DVP zueinander genau bestimmt wird und eintretende Entwicklungen charakterisiert sind. Daraus wird die stark vorwiegende Einflussnahme der engeren Parteiführung sichtbar, zunächst des Geschäftsführenden Ausschusses, später – seit 1921 – des Parteivorstandes und des Reichsausschusses gegenüber dem Zentralvorstand als dem umfassenden Führungsgremium. Insofern kann von einem Verlauf der Willensbildung vom innersten Kreis der Partei nach außen bzw. von der Parteispitze auf die breiteren Führungsebenengesprochen gesprochen werden. Personelle Verklammerungen der Parteiorgane verfestigten diese Struktur der Willensbildung. Eine wirkungsvolle innerparteiliche Opposition konnte sich daher nur auf die volksparteilichen Parlamentsfraktionen stützen. Sie fand dort allerdings auch günstige Voraussetzungen: einmal in dem von der liberalen Überzeugung getragenen Bewußtsein der Abgeordneten von der Freiheit und Ungebundenheit des Repräsentationsmandats und zum anderen in der Verbindung der Abgeordneten mit den hinter ihnen stehenden Interessenverbänden.

Es ist oben schon von dem besonderen Gewicht Stresemanns für die DVP die Rede gewesen. Sie lässt sich aus den Dokumenten immer wieder herauslesen. Andererseits ist aber auch nicht zu übersehen, dass die Führung der Außenpolitik durch Stresemann wegen seiner Führungsrolle in der Partei auf die DVP besondere Rückwirkungen hatte. Sie werden beispielsweise auf einer Sitzung des Zentralvorstandes in Frankfurt am 6. Juli 1924 artikuliert. Allgemeine Zustimmung und Anerkennung errang hier Stresemann mit seinem einleitenden Referat, das von den folgenden Diskussionsrednern immer wieder aufgegriffen wurde. Es bezog sich vor allem auf das Gutachten einer unabhängigen Sachverständigenkommission unter dem Vorsitz des amerikanischen Bankiers Dawes von April 1924 zur deutschen Finanzlage im Hinblick auf die Reparationsfrage und auf dessen Aufnahme in der internationalen und der deutschen Öffentlichkeit. In einer Rede des Reichstagsabgeordneten Dr. Otto Hugo wurde dann aber auch ausgiebig auf die Belastungen hingewiesen, die sich für die DVP aus ihrem starken außenpolitischen Engagement ergaben. Die Präferenz der Außenpolitik hindere die Partei daran, brennende innenpolitische Probleme aufzugreifen und räume damit der konkurrierenden DNVP ein willkommenes Agitationsfeld ein. Die Partei sei in Gefahr, ihr Prestige als Wirtschaftspartei einzubüßen, und das in einer Situation, in der wirtschaftliche Existenzfragen breitester Massen der deutschen Bevölkerung zu lösen seien. Die DVP habe in der Wählerschaft bei Bauern, bei Beamten und in der Industrie große Verluste erlitten. Sowohl gegenüber der Sozialdemokratie als auch gegenüber den Repräsentanten von Zentrum und Demokratischer Partei sei die DVP in der Besetzung von Positionen mit Macht und Einfluss stark ins Hintertreffen geraten. „Nur Verantwortung tragen und Opfer bringen, das hält eine Partei auf die Dauer nicht aus. Ein Stresemann mit seinem großen Verantwortlichkeitsbewusstsein kann sich mit seinem Idealismus, seiner Tatkraft, seinem Weitblick über alle Rücksichten hinwegsetzen. Aber als Gesamtheit der Partei müssen wir danach streben, dass wir ein reales Machtfundament im Staate hinter uns haben, und das haben wir zur Zeit nicht." (S. 518f.)

Aus dem Besitz von Stresemanns Sohn, Dr. Wolfgang Stresemann, ist in die Edition die letzte Rede des Parteiführers vor dem Reichsausschuss der DVP vom 30. September 1929, also wenige Tage vor Stresemanns Tod, aufgenommen worden. Ihren Hauptinhalt bildet die Auseinandersetzung mit der Kritik am Young-Plan und an seinem Zustandekommen. Sie richtet sich mit großer Schärfe gegen die Agitation, die von DNVP, NSDAP, Stahlhelm und Alldeutschem Verband in dem „Reichsausschuss für das deutsche Volksbegehren" gegen den Young-Plan und die „Kriegsschuldlüge" in Gang gesetzt worden war. Enthält die Rede auch scharfe Passagen gegen die Verhandlungsführung der alliierten Gläubigerstaaten, so ist sie doch eindeutig geprägt von der realistischen Situationsanalyse Stresemanns, mit der er die deutsche Verhandlungsführung begründete. Die Rede ist ferner geprägt von dem klaren Willen, die DVP und ihre Repräsentanten und Mitglieder auf das Deutlichste von dem augenblicklichen Kurs der rechtsextremen Kräfte abzugrenzen und schließlich von der kämpferisch-dynamischen Wendung gegen die Bedrohungen der von ihm selbst befürworteten realitätsorientierten Politik durch die genannte Rechte. Obwohl aus der Perspektive des September 1929 gesprochen, scheint in Stresemanns Worten schlaglichtartig auf, was dann in noch schlimmerer Form verhängnisvolle Wirklichkeit wurde: „Hüten wir uns, dass, wenn nachher der Zusammenbruch kommt, all diese Mächte zu einer eigenen Organisation zur Vorbereitung für die nächsten Reichstagswahlen und für den nächsten Bürgerkrieg sich zusammenfinden. Es ist nicht wahr, dass sie sich im inneren Ringen fanden; das ist Unsinn. Ich sehe nur, dass wir mit der Linken gehen müssen, weil Teile von rechts in Deutschland verrückt geworden sind. ... Es ist kein Zweifel, dass wir außenpolitisch heute in der Welt geachtet dastehen, wie kein Mensch geglaubt hat, dass das in fünf Jahren möglich sein würde. Jetzt kommt diese Welle. Stellen Sie sich doch vor, dass diese Gesellschaft Deutschland regierte! Ich muss sagen, wenn ich lediglich ein Vergnügen haben wollte, so möchte ich in der Opposition sitzen und sehen, wie diese Hugenberg und Seldte und diese Leute in vier Wochen sich kaputtwirtschaften. Aber sie wirtschaften ja nicht nur sich kaputt, sie wirtschaften unser Vaterland kaputt. Das ist das Schlimme." (S. 861f.)

Das letzte überlieferte Protokoll einer Sitzung des Reichsausschusses der DVP (vom 15.1.1933) gibt ein eindrucksvolles Bild von dem Niedergang, den die Partei inzwischen durchgemacht hat. Die DVP hat ein kurzfristiges Wahlbündnis mit der DNVP hinter sich und ist von dem Erfolg wenig überzeugt. Sie erwägt trotzdem eine Wiederholung dieses Vorgehens, obwohl sie bei der DNVP eine Ablehnung befürchten muss und dazu noch das Risiko einginge, sich nicht mehr von der DNVP abzuheben. Sie stützt den Kanzler von Schleicher, ist sich aber über die Einschätzung seiner Politik keineswegs klar und weiß nicht recht, ob sie sich mit und neben ihm profilieren oder sich in seinem Schatten halten soll. Eine eindeutige Willensrichtung der Partei ist nicht zu erkennen. Dass die Schwäche der Partei und die Ungeklärtheit der wirtschaftlichen und politischen Situation Deutschlands ausreichende Gründe für diesen Zustand der Partei bilden, ist nicht zu bezweifeln, ändert aber nichts an ihrem allgemein düsteren Erscheinungsbild, das diese Sitzung ihres Reichsausschusses vor Augen führt.

Die Veröffentlichung der vorliegenden Dokumente stellt eine wertvolle Bereicherung der allgemein zugänglichen Quellen nicht nur für die DVP und den Liberalismus in der Weimarer Republik dar, sondern sie wird durch den Anmerkungsapparat auch aufs Engste in den vorliegenden Forschungsstand eingefügt und bietet eingehende und wertvolle Erläuterungen zu den erwähnten Personen und den zeitgenössischen Bezugspunkten.

Karl-Egon Lönne, Düsseldorf


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