Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Christiane Eisenberg, "English Sports" und deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800-1939, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn etc. 1999, 522 S., geb., 128 DM.

Es gibt nur wenige Felder der modernen deutschen Sozialgeschichte, die von der etablierten Geschichtsschreibung lange Zeit so stiefmütterlich behandelt wurden wie der Sport. Dies verwundert vor allem angesichts der Tatsache, dass es sich hierbei nicht um ein gesellschaftliches Randphänomen, sondern um eine Massenbewegung mit einer mehr als einhundertjährigen Geschichte handelt. Weithin blieb das Feld Sportwissenschaftlern und Soziologen überlassen, was jedoch nur zu unbefriedigenden Ergebnissen führte. Lediglich der Arbeitersport wurde in den 1960/70er Jahren im Zuge der detaillierten Forschung zur deutschen Arbeiterbewegung mehrfach behandelt. Die Konzentration auf diesen Teil der Sportbewegung, der meist auch nur als verlängerter Arm der politischen Arbeiterorganisationen verstanden wurde, führte zu einer weitgehenden Überschätzung des Arbeitersports. Tatsächlich waren selbst in dessen Glanzphase, in der Weimarer Republik, weit mehr Arbeiter in bürgerlichen Sportvereinen organisiert als im Arbeiter- Turn- und Sportbund. Sein Wirkungskreis blieb größtenteils auf den gewerkschaftlich und parteipolitisch organisierten Teil der Arbeiterschaft beschränkt. Dem von der Mehrheit betriebenen bürgerlichen Sport hingegen, der nicht in den unmittelbaren Bannkreis der Parteien- und Ideologiegeschichte einzuordnen war, blieb eine systematische historische Erforschung vorenthalten. Er galt offenbar als zu trivial für eine ernsthafte wissenschaftliche Thematisierung. Sportlern fehlte gleichsam wie dem nicht-adeligen Held im klassische Drama die nötige Fallhöhe, um die Hauptrolle in wissenschaftlichen Darstellungen einnehmen zu können.

Das Risiko, das Christiane Eisenberg eingegangen ist, indem sie sich aus der geschichtswissenschaftlichen Fallhöhe in die von Fachkollegen häufig belächelten Niederungen der Sportgeschichte begab, hat sich gelohnt. Sie ist auf ein Phänomen der modernen Massenkultur gestoßen, das durch seine vielen Interdependenzen nicht nur hohe methodische Ansprüche stellt, sondern sich wie kaum ein anderes eignet, die Entstehung und das Funktionieren von Gesellschaften exemplarisch begreifbar zu machen.

Mit dem nun vorliegenden, in jeder Hinsicht eindrucksvollen Buch krönt die Autorin eine mehr als zehnjährige Forschungstätigkeit, aus der bereits zahlreiche kleinere, aber kaum weniger erhellende Veröffentlichungen hervorgegangen sind. Mit den Mitteln der modernen historischen Sozialwissenschaft schildert und analysiert sie die Entwicklung und gesellschaftliche Transformation des bürgerlichen Sports in Deutschland von seiner Übernahme aus England in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zu den Olympischen Spielen in Berlin von 1936. Das Vorbild einer solchen Gesellschaftsgeschichte des Sports ist dem gleichen Land entlehnt, aus dem auch der Sport selbst stammt. Pionierarbeiten wie Sir Raymond Carrs meisterhafte Studie zur Geschichte der Fuchsjagd erschien bereits 1976 und Tony Masons Darstellung der Gesellschaftsgeschichte des Fußballs in England vor dem Ersten Weltkrieg wurde bereits erstmals 1980 vorgelegt.

Für eine Gesamtdarstellung dieses Anspruchs ist es unverzichtbar nochmals auf die mittlerweile sehr gut erforschte Entstehung und Ausformung des Sport in Großbritannien einzugehen, nicht zuletzt um anhand dieses Musters Unterschiede zur deutschen Entwicklung deutlich zu machen. Im Anschluß an diese die Grundlinien skizzierenden Darstellung beschreibt Eisenberg ausführlich die Ausgangsbedingungen in Deutschland, wobei die vorindustrielle Turnbewegung als der spätere Antagonist des Sports im Mittelpunkt steht. Die Epoche von der Reichsgründung bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs charakterisiert die Autorin als die entscheidende Phase der Übernahme, Etablierung und Transformation des Sports in Deutschland. Exemplarisch wird anhand des Pferderennsports, von Tennis und Fußball die Aneignung dieser drei aus England kommenden Sportarten in Deutschland untersucht. Jede dieser Sportarten kann jeweils eindeutig einer sozialen Großgruppe zugeordnet werden. Im Fall des Pferderennsports sind dies der Adel und das Großbürgertum. Tennis fand seine Akteure und sein Publikum im Bildungsbürgertum, wobei die Bedeutung des sportlichen Geschehens meist von seiner sozialen Funktion als Begegnungsstätte der Geschlechter und als "Heiratsmarkt" übertroffen wurde. Fußball war schließlich die Domäne der kaufmännischen und technischen Angestellten, die zugleich das Gros der Sportbewegung vor dem Ersten Weltkrieg stellten. Die Angestellten identifiziert Eisenberg darüber hinaus als die unterste Gruppe in der Sozialpyramide des Kaiserreichs, die sich dem neuen Sport zugewandt hatte. Das Kleinbürgertum und die Arbeiterschaft waren hingegen - soweit sie sich überhaupt auf dem Feld der Leibesübungen betätigten - in den Turnvereinen organisiert, die auch noch 1914 in strikter Opposition zur Sportbewegung standen. Diesen Gegensatz zwischen traditioneller Turn- und neuer Sportbewegung sieht Eisenberg stellvertretend für einen "Kulturkampf" zwischen dem althergebrachten städtischen Honoratioren-Bürgertum und den sich neu bildenden Mittelschichten der Dienstleistungs- und Technikerberufe, den sie als besonderes Spezifikum des bürgerlichen Sports in Deutschland interpretiert.

Die Etablierungs- und Transformationsphase des Sports in dem Vierteljahrhundert vor dem Ersten Weltkrieg wird als ambivalentes Werben der Sportlobbyisten um staatliche Anerkennung und Förderung einerseits, und der beginnenden Vereinnahmung des Sports für die nationalistischen und militaristischen Ziele des wilhelminischen Deutschlands andererseits beschrieben. Während des Ersten Weltkriegs wurde der Sport dann vollends zur reinen Wehrertüchtigung funktionalisiert. Vor allem in dieser Entwicklung erkennt Eisenberg die Ausformung eines spezifischen "deutschen Sports". Allerdings, und dies wird zu wenig deutlich, die Nationalisierung und Militarisierung des Sports war kein auf Deutschland begrenztes Phänomen, sondern in gewissem Maße in allen Nationalstaaten anzutreffen. Es sei an dieser Stelle lediglich an den häufig in der englischsprachigen Literatur erwähnten symbolträchtigen Fall eines britischen Captains erinnert, der am Beginn der Schlacht an der Somme seine Einheit zum Sturmangriff auf die deutschen Stellungen hinter mehreren Fußbällen herrennen ließ und demjenigen einen Preis in Aussicht stellte, der sich als erster zu den deutschen Linien "durchgedribbelt" hatte.

Zu Recht betont die Autorin, dass die Militarisierung des Sports auch in der Weimarer Republik nicht mehr vollständig rückgängig gemacht werden konnte. Sie zeigt vor allem die engen Zusammenhänge zwischen Freikorps, Wehrverbänden und Sportvereinen. Ob jedoch tatsächlich, wie Eisenberg schildert, vor allem die Gewalterfahrungen der Frontsoldaten für eine Verrohung des Sports wie z.B. des Spitzenfußballs führte, ist schwer überprüfbar. Für die in den Sportberichten häufig beschriebene "Härte", war sicher auch entscheidend, dass die Fußballspiele im Unterschied zum Kaiserreich vor einem Massenpublikum ausgetragen wurden, dessen freigesetzte Emotionen sich auch auf das Verhalten der Spieler auf dem Rasen übertrugen. Leider kommt überhaupt deutliche Popularisierungsschub des Sports nach 1918 zu kurz. Einige konkrete Fallbeispiele, wie sie für die Entwicklung vor 1914 dargestellt wurden, wären hier wünschenswert. Zu sehr steht der institutionelle Rahmen im Mittelpunkt, zu sehr wird die fortdauernde Militärisierung des Sports thematisiert, die zweifellos in der Sportorganisation eine wichtige Rolle spielte, die aber kaum als Begründung für die neu gewonnene Massenbasis des Sports in der Weimarer Republik ausreicht.

Schließlich überrascht Eisenberg durch ihre Interpretation der nationalsozialistischen Sportpolitik, insbesondere der Olympischen Spiele von 1936. Sie werden im Gegensatz zu den gängigen Interpretationen nicht als politischer Missbrauch des Sports, sondern als vorübergehende "Auszeit" des Nationalsozialismus gedeutet. In den Spielen von Berlin erkennt Eisenberg den Endpunkt der bürgerlichen Kultur des langen 19. Jahrhunderts. Symbole dieser Spiele, wie den Lichtdom, dessen Urheberschaft sie Albert Speer abspricht, sowie Brekers und Thoraks Monumentalskulpturen interpretiert sie als genuine Fortsetzungen bürgerlicher Kultur. In diesen Deutungen ist eine gewisse Provokation nicht zu übersehen und damit zukünftiger Diskussionsstoff geliefert. Denn es stellt sich die Frage, ist die formelle Fortführung bürgerlicher Symbole, dazu sind im weitesten Sinne auch die Olympischen Spiele als Ganzes zu rechnen, ein Zeichen der Domestizierung des Nationalsozialismus, oder aber ist es nicht der Nationalsozialismus schlechthin, der sich bewusst der traditionellen Stil- und Formensprache bedient, um daran völlig andere, ihm eigene Ziele zu knüpfen. Hier scheint das letzte Wort noch nicht gesprochen.

Martin L. Müller, Frankfurt/ Main



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