Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Hermann Butzer, Diäten und Freifahrt im Deutschen Reichstag. Der Weg zum Entschädigungsgesetz von 1906 und die Nachwirkung dieser Regelung bis in die Zeit des Grundgesetzes, Verlag Droste, Düsseldorf 1999, geb., 118 DM.

Unter den politischen Belastungen des Kaiserreichs nahm das verfassungsrechtliche Diätenverbot für Reichstagsabgeordnete einen besonderen Platz ein. Ihm vor allem wurde die gebremste Professionalisierung der Politik, die schiefe Repräsentation der unteren Klassen und die Dominanz der Parteien in den politischen Systemen Deutschlands zugeschrieben. Doch Genaues wußte man bisher nicht. In einer Fleißleistung zeichnet die vorliegende Arbeit minutiös die Geschichte der Debatte um die Diäten und um die Freifahrt für Abgeordnete nach. Sie beschränkt sich hierbei auf die Geschichte der Gesetzgebung und auf die Diskussionen im Reichstag und in der Reichsleitung.

Diäten sind keine Erfindung der modernen Berufspolitiker, sondern der beauftragten Fürstenvertreter in den feudalen Gremien der Frühen Neuzeit. Auch in der liberalen Honoratiorenpolitik des frühen 19. Jahrhunderts spielten sie eine wichtige Rolle als Aufwandsentschädigung und auch als symbolische Anerkennung der geleisteten Arbeit. Die Abgeordneten des Stuttgarter Parlaments erhielten ihre Diäten noch bis 1851 und selbst ins, weil sie sich weiterhin als ein Parlament verstanden, dessen Tagung nur unterbrochen sei.

Entschädigungen für Abgeordnete waren also auch in Deutschland der Normalfall. Und selbst das Diätenverbot in der Verfassung des Norddeutschen Bundes regelte den Umgang mit Diäten keineswegs so eindeutig, wie man annehmen möchte. Die private Finanzierung von Aufwandsentschädigungen wurde anfangs nicht moniert, weil sie nach herrschender juristischer Meinung zwar verboten, aber rechtlich folgenlos war. Seit 1876 wurden die sozialdemokratischen Abgeordneten, seit 1881 die Deputierten der Fortschrittspartei von ihrer Partei finanziell unterstützt. Weder jetzt noch später gelang es, einem Abgeordneten Entschädigungen, die er von privater Seite oder von Organisationen erhielt, staatlicherseits wieder zu „entreißen". Selbst die spektakulären Diätenprozesse der 1880er Jahre, in denen Abgeordnete für die Annahme solcher Entschädigungen verklagt wurden, endeten allesamt mit einem Mißerfolg.

Die Auswertung der Debatten seit 1871 zeigt, dass es außer verfassungsrechtlichen Hemmnissen vor allem die Sturheit Bismarcks und die geringe Kompromissbereitschaft der Parteien war, welche eine Einführung der Diätenzahlung verhinderte. Sie wäre aber politisch insofern geboten gewesen, als sich die Verweigerung von Diäten in einer niedrigen Anwesenheitsquote der Reichstagsabgeordneten niederschlug und so die Arbeit des Parlaments schon in seinen ersten Jahren behinderte. Anwesend waren vor allem die Berliner Abgeordneten. Das Diätenverbot führte also zu einer Stärkung der Parteizentralen und trieb, wenn auch nur bei einer kleinen Gruppe von Politikern, gerade hier die Professionalisierung und die Entwicklung einer Zweiklassengesellschaft im Reichstag voran. Bismarcks Politik hatte also in mancher Hinsicht gerade gegenteilige ungeplante Folgen. Dass schließlich doch Diäten durchgesetzt werden konnten, war eine Folge des gewachsenen Gewichts des Reichstags. Nachdem er in der Zolldebatte 1902 mit Verweigerung gedroht hatte, wurden erstmals für die Mitglieder der entsprechenden Gesetzeskommission Anwesenheitsgelder gezahlt.

In der Verabschiedung des Entschädigungsgesetzes von 1906 ist mithin ein später Sieg des Parlaments zu sehen. Es war jedoch eine im Grunde infame Regelung, die eher das Nachhausegehen der Abgeordneten als ihr Zusammenkommen belohnte. Denn bei einer jährlichen Gesamthöhe von 3.000 Mark wurde die Entschädigung in monatlich um je 100 Mark steigenden Beträgen ausbezahlt. Sie begannen jeweils am 1. Dezember mit 200 Mark begannen und erreichten am 1. April 600 Mark. Am Tag der Vertagung oder Schließung des Reichstags sollten die restlichen 1.000 Mark ausbezahlt werden. Rein finanziell war es daher rational, am 1. Mai den Reichstag zu schließen.

Für die Zeit nach 1906 wird die zunächst sehr genaue, fast detaillistische Darstellung zwar nicht kursorisch, aber sie ist doch mit deutlich leichterer Hand geschrieben. In diesem letzten Teil des Buches beschränkt sich der Autor weitgehend auf eine positivistische Wiedergab der Diskussionen, Vorlagen und Beschlüsse, die bis 1919 nichts Wesentliches änderten, sieht man von der Ausdehnung der Freifahrt auf die gesamte Legislaturperiode im Jahr 1918 ab. Für denjenigen, der nach der Professionalisierung der Politik fragt, ist aber gerade dieser Wandel interessant. Beschloss doch die Nationalversammlung nun eine monatliche Zahlung der Diäten und ebnete so der Umwandlung der Diäten von einer Aufwandsentschädigung zu einem Gehalt den Weg. Seit 1920 wurden die jährlichen Diätenerhöhungen im Wege der ordentlichen Gesetzgebung beschlossen; Differenzen zwischen den Parteien gab es keine, die meisten Diätenerhöhungen gingen ohne Debatte und namentliche Abstimmung vor sich. Hier zeigt sich, von Butzer nicht beachtet, eine Einigkeit der Weimarer politischen Klasse, die angesichts der tiefgreifenden Differenzen in der politischen Landschaft erstaunlich ist. Ebensowenig Beachtung findet eine tiefgreifende Änderung seit 1923, welche die Diäten auf ein Viertel des Grundgehalts eines Ministers ansetzte und diese damit an die Entwicklung der Beamtengehälter anband – Abgeordnete verstanden sich als eine Art von Beamten. Ab 1930 wurden die Diäten wieder auf einem Stand von 600 Mark eingefroren. Trotz der Propaganda der Nationasozialisten gegen die „Futterkrippenpolitik" des Reichstags blieb es bis 1945 bei dieser Regelung.

Die Leistungen wie auch die Schwächen des Buches liegen auf der Hand: Erstmals liegt nun eine detaillierte Geschichte der Gesetzgebung bis 1906 vor. Damit ist Butzers Buch eine unverzichtbare Grundlage für weitere Forschungen zur Praxis des politischen Handelns wie auch zum Wandel des Politikertypus. Diese Vorzüge prädestinieren aber das Buch auch zu einem Steinbruch von Informationen. Denn Butzer hält sich mit Interpretationen sehr zurück, sie haben dem bisherigen Bild vom Kaiserreich nur wenig hinzuzufügen. Im Wesentlichen bleibt der Verfasser innerhalb des von Wolfgang Mommsen vorgegebenen Erklärungsmusters vom „System umgangener Entscheidungen". Wer Aussagen sucht über die Sozialgeschichte des Politikers und etwa wissen will, wieviel diese Diäten wert waren, inwieweit sie die Ausgaben abdeckten oder ob sie die Rekrutierungspraxis der Abgeordneten veränderten, der wird enttäuscht werden. Noch weniger finden sich Hnweise auf die politische Mentalität, in der die Praxis der Bezahlung von Politik eingebunden ist. Der Politiker wurde nun immer mehr zum politischen Dienstleister. Erst Recht mußte ein solcher Wandel eintreten, sobald die Diäten monatlich bezahlt wurden und sich jährlich erhöhten.

Diese Versäumnisse kann man der Untersuchung schlecht vorwerfen; denn sie hält sich an den Rahmen, den der Titel absteckt, wenn man von den dünner werdenden Informationen für die Zeit der „Nachwirkungen" absieht. Dennoch: Etwas mehr Sozialgeschichte der Politik hätte der Leser erwartet.



Thomas Mergel, Bochum



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