Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Christina Benninghaus, Die anderen Jugendlichen. Arbeitermädchen in der Weimarer Republik, Verlag Campus, Frankfurt/Main 1999, 334 S., kart., 78 DM.

„Arbeitermädchen eignen sich nicht zu Heldinnen." Mit diesem Satz beginnt Christina Benninghaus das Fazit ihrer Studie über Arbeitermädchen in der Weimarer Republik (S. 293). Die Protagonistinnen der Untersuchung, zwischen 14 und 17 Jahre alt, waren aber ebensowenig lediglich Opfer sozialer Bedingungen. Sie lebten in Städten, hatten die Volksschule absolviert und arbeiteten als Dienstmädchen, in der Industrie, in Büros oder im Handel. Die Autorin interessiert sich einerseits für die Bedingungen am Arbeits- und Ausbildungsplatz, für die Familiensituation der Mädchen sowie für deren Freizeit- und Konsumverhalten. Andererseits geht sie der Frage nach, von welchen Vorstellungen über ihre Lebens- und Arbeitssituation sich die jungen Akteurinnen leiten ließen, und von welchen Lebensentwürfen diese Deutungen getragen waren. Die Quellengrundlage bilden neben Statistiken und zeitgenössischen Studien 1.400 Aufsätze von Berufsschülerinnen über Themen wie „Mein Beruf", „Wie ich mir ein schönes Leben denke" sowie „Kummer und Trost". Die zweidimensionale Fragestellung erschließt das Quellenmaterial sowohl zur Rekonstruktion struktureller Bedingungen als auch deren subjektiven Deutungen durch die Mädchen.

Die Autorin gibt in fünf Kapiteln eine differenzierte und grundlegende Darstellung der verschiedenen Lebens- und Arbeitserfahrungen der Arbeitermädchen. Zu Anfang untersucht sie, welche gesetzlichen und sozialen Bedingungen die Jugendphase markierten, und wie die Mädchen den Übergang zum Erwachsenenalter, ihre „besten Jahre" (S. 37), gestalteten. Im folgenden Kapitel informiert Benninghaus über den familialen Kontext der Mädchen und darüber, welche Bedeutungen innerfamiliäre Hierarchien, das Verhältnis zur Mutter und die Hausarbeit für die Mädchen hatten. Im dritten und vierten Kapitel arbeitet sie die Arbeitsmarktsituation, die Bildungschancen, die Berufswahl weiblicher Jugendlicher und deren subjektiven Einschätzungen heraus. Unterschiedliche Arbeitsbedingungen und -erfahrungen von Dienstmädchen, Arbeiterinnen, Verkäuferinnen, Kontoristinnen und Schneiderinnen stehen im Mittelpunkt des längsten und letzten Kapitels.

Benninghaus analysiert Herrschaftsstrukturen, in denen die Mädchen aufwuchsen. Sie stellt die Mädchen jedoch nicht als Opfer dar. Vielmehr erscheinen sie als ‘eigen-sinnige’ Akteurinnen, die sich z. B. die Freiheit nahmen, die Filiale aufgrund der Kritik ihres Chefs an ihrer Kleidung und Frisur zu wechseln (S. 251). Benninghaus erfüllt überzeugend ihren hohen Anspruch, die Reziprozität und Dynamik von Strukturen und Handlungen sowie Erfahrungen der Einzelnen, sichtbar zu machen. Allerdings überwiegt in der von Bourdieu inspirierten Untersuchung eine pessimistische Einschätzung der Handlungsspielräume der Mädchen. Dies wird besonders bei sexualisierten Geschlechterinteraktionen deutlich. Die nachgewiesene Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt, am Arbeitsplatz oder in der Familie rechtfertigen dieses Urteil. Aber ausführliche Zitate der Mädchen, insbesondere über ihr Verhältnis zum männlichen Geschlecht, ließen auch positivere Interpretationen zu.

Die Untersuchung von Benninghaus schließt eine wichtige Forschungslücke zur Geschichte jugendlicher Lebens- und Arbeitsverhältnisse zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie setzt hohe Maßstäbe für die historische Jugendforschung, denn sie demonstriert, dass sich die Einführung der Kategorie ‘Geschlecht’ nicht in der Thematisierung von Lebensrealitäten weiblicher Jugendlicher erschöpft, sondern auch auf Geschlechterverhältnisse der Peergroup, innerhalb von Familien oder am Arbeitsplatz erstreckt. Damit zeigt Benninghaus, dass eine geschlechterhistorische Betrachtung der bei weitem nicht erschöpften Forschung von Lebens- und Arbeitswelten während der Weimarer Republik gewinnbringend ist.

Bettina Joergens Siegen/Bielefeld



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