ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Archiv für Sozialgeschichte
Band XLV/ 2005 - Zusammenfassungen


Dieter Bingen

Ostpolitik und demokratischer Wandel in Mittel- und Osteuropa. Der Testfall Polen

Die deutsche Ostpolitik bezeichnet im engeren Sinne die Politik der sogenannten Normalisierung, die das SPD/FDP-Kabinett unter Bundeskanzler Willy Brandt und Außenminister Walter Scheel in den Jahren 1970-1973 gegenüber den Ostblockstaaten einschließlich der DDR betrieben hat. Sie schlug sich in den sogenannten Ostverträgen nieder. Über die einzelnen Epochen hinweg war Ostpolitik eine abgeleitete Funktion einer auf staatliche Wiedervereinigung zielenden Deutschlandpolitik und basierte auf der stabilen Westverankerung des westdeutschen Staates (NATO, EWG/EG). Die Rückschau legt das latente Spannungsverhältnis zwischen den beiden Komponenten der westdeutschen Ostpolitik bis zum Ende der Achtzigerjahre frei, nämlich einerseits dem realpolitischen Ansatz, Handlungsspielräume zu erweitern und entsprechend geographischer Lage, wirtschaftlicher Kapazitäten sowie kultureller und historischer Verknüpfungen im Osten Präsenz zu zeigen, und andererseits der moralischen Dimension, die sowohl die historische Rolle und Verantwortung Deutschlands in Ostmittel- und Osteuropa in den Blick nahm als auch die Möglichkeiten der Förderung von Liberalisierung und Demokratisierung der östlichen Staaten auszuloten hatte.

Unter diesen Bedingungen konnte die Ostpolitik der Bundesrepublik nur in dem einen entscheidenden Punkt eine Prämisse für die Demokratiebewegung in Ostmitteleuropa sein, indem sie den regierenden Kommunisten das Argument vom deutschen Revanchismus und Grenzrevionismus als Legitimation der kommunistischen Herrschaft und der sowjetischen Hegemonie aus der Hand schlug und glaubwürdig ein neues friedliches und gutnachbarliches Deutschland repräsentierte. Die Initiative zur Demokratisierung jedoch musste von demokratischen Kräften innerhalb der realsozialistischen Systeme ausgehen.

Insofern haben erst die Freiheitskräfte in Ostmitteleuropa 1989/90 die deutsche Osteuropapolitik grundsätzlich von Dilemmata erlöst, vor die sich jede Regierung von der Kanzlerschaft Adenauers über Erhard, Kiesinger, Brandt und Schmidt bis in die ersten Jahre der Kanzlerschaft Kohls gestellt sah.


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