ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Archiv für Sozialgeschichte
Band XLIV/ 2004 - Zusammenfassungen


Benjamin Ziemann,

Zwischen sozialer Bewegung und Dienstleistung am Individuum. Katholiken und katholische Kirche im therapeutischen Jahrzehnt

Die katholische Kirche der Siebzigerjahre wird hier mit den Konzepten der modernen Organisationstheorie analysiert. Dazu wird zunächst die wechselseitige Überlagerung und Aufladung der zäsurbildenden Ereignisse des Zweiten Vatikanums und der Protestbewegung der 68er verfolgt, welche in der katholischen Kirche mit dem Essener Katholikentag des Jahres 1968 zum Durchbruch kam. Seit "Essen" wirkte die Thematisierung innerkirchlicher Konflikte im Forum der massenmedialen Öffentlichkeit massiv und unmittelbar auf das Entscheidungshandeln der Bischöfe und des Zentralkomitees der deutschen Katholiken zurück. Ein zweiter Argumentationsschritt erörtert die sozialen Protestbewegungen der Jugendlichen, Priester und Studenten, welche, vor allem unter Rückgriff auf Argumente der Befreiungstheologie, neben einer Reform kirchlicher Strukturen eine solche der ungerechten und defizienten Gesellschaftsstrukturen in der "ersten" Welt forderten. Parallel dazu vollzog sich, weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit, der massive Ausbau therapeutischer Konzepte für die psychosoziale Beratung und Betreuung hilfebedürftiger Individuen, wie er sich massiv vor allem im personellen Wachstum und der inneren Differenzierung der Angebote der Caritas zeigt. Schließlich werden die Spannungen zwischen hierarchischer und heterarchischer Kopplung und Entscheidungsbildung erörtert, die sich innerhalb der kirchlichen Organisation während der Siebzigerjahre herausgebildet haben. Auf der einen Seite wurden die hierarchischen Organisationsstrukturen in den Generalvikariaten der Bistümer und in der Deutschen Bischofskonferenz ausgebaut und durch ein dichtes Netz von Laiengremien ergänzt, welche im Sinne des Zweiten Vatikanums die Teilhabe des "Volkes Gottes" an der Kirche organisieren sollten. Andererseits entwickelten sich Formen der heterarchischen Selbstorganisation durch die Aktivitäten von vielen tendenziell autonom agierenden Pfarrgemeinden. Diese Tendenz wurde zeitgenössisch im Begriff der "Gemeindekirche" diskutiert. In solchen "Basisgemeinden" entwickelten sich Praktiken wie etwa die Beauftragung von Laien mit der Predigt, die im dauerhaften Widerspruch zu kirchlichen Entscheidungen standen.


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | September 2004