ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Archiv für Sozialgeschichte
Band XLIV/ 2004 - Zusammenfassungen


Franz-Werner Kersting,

Abschied von der "totalen Institution"? Die westdeutsche Anstaltspsychiatrie zwischen Nationalsozialismus und den Siebzigerjahren

Der Beitrag beleuchtet drei Problemfelder und Entwicklungslinien der Anstaltspsychiatrie: Er fragt erstens nach der Bedeutung der nationalsozialistischen Gesundheits- und Kriegspolitik (Zwangssterilisation/"Euthanasie"-Morde"/"Hungersterben" in den Anstalten) für den spezifischen Reformstau und -prozess der deutschen Nachkriegspsychiatrie. Dabei wird auch eine kleine Gruppe von Psychiatern (u.a. Martin Schrenk, Manfred in der Beeck, Heinz Häfner) aus der "skeptischen Generation" vorgestellt, die - ganz im Unterschied zum medizinisch-gesellschaftlichen Mainstream - schon früh eine kritische Reform- und Vergangenheitsorientierung miteinander verknüpften. Diese Mediziner forderten die Modernisierung und Humanisierung des Umgangs mit psychisch Kranken und geistig Behinderten auch aus dem Geist einer "Wiedergutmachung". Zweitens wird das Phänomen der "Reform vor der Reform" fokussiert: Grundlegende Reformideen wurden schon seit dem Übergang von den 1950er- zu den 1960er-Jahren formuliert und rezipiert (u.a. "Kennedy-Botschaft", 1963/"Rodewischer Thesen" aus der ehemaligen DDR, 1963). Auch viele praktische Einzelinitiativen zur Verbesserung der Anstalts- und Patientenverhältnisse atmeten bereits manches von dem Geist des grundlegenden Wandels der psychiatrischen Versorgung.
Drittens geht es um das folgenreiche Ineinandergreifen von "Psychiatriereform" und "'68". Denn wirklich öffentlich und Gegenstand einer sozialen Bewegung wurde die Situation der bundesdeutschen Psychiatrie erst im Zeichen des gesellschaftlichen Umbruchs der späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre ("Psychiatrie-Enquete"). Der Reformdiskurs und -aufbruch im engeren Sinne wurde zudem von einer breiten kulturellen Ausstrahlung insbesondere der "Anti-Psychiatrie" begleitet und überlagert. Sie spielte sowohl in Film und Literatur als auch in verschiedenen Zirkeln der "Linken Szene" eine wichtige Rolle. Bekannt wurde hier vor allem das "Sozialistische Patientenkollektiv Heidelberg" (SPK), das ebenfalls näher beleuchtet wird.


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