ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Archiv für Sozialgeschichte
Band XXXX / 2000 - Zusammenfassungen


Andreas Renner
Erfindendes Erinnern. Das russische Ethnos im russländischen Gedächtnis

Gemeinsames Erinnern ist ein hochwirksames Verfahren menschlicher Gruppenbildung, das auch für den Nationalismus eine Schlüsselrolle spielt. Seine erstaunlich langlebige Glaubwürdigkeit beruht unter anderem auf der Vorstellung einer natürlichen gemeinsamen Vergangenheit, wie sich am russischen Nationalismus nicht nur der Gegenwart, sondern bereits seit dem 18. Jahrhundert zeigen lässt. Ein Längsschnitt durch die Nationsdefinition dieser Zeitspanne zeigt das wachsende Gewicht ethnisch russischer Elemente. Dieser ideengeschichtliche Befund beweist allerdings nicht die faktischen ethnischen Wurzeln der Nation, sondern fragt lediglich, warum diese überhaupt gesucht werden. Die beiden wichtigsten Faktoren waren zum einen die soziale Isolation der intellektuellen Vordenker der Nation, zum anderen die weitgehende Ohnmacht einer politischen Definition der (Staatsbürger)nation. Wertete die Ethnizität die Bildungselite der »intelligencija« mitsamt ihren Nationsentwürfen auf, behielt der reichspatriotische Bezugsrahmen der staatlichen Einheit seine Gültigkeit. Zusammen verbanden sich beide zu einem neuen Maßstab, mit dem vor allem seit den 1860er Jahren das heterogene Zarenimperium zu einem Vielvölkerreich mit nationalen Fragen definiert wurde.

 

Yvonne Rieker
Südländer, Ostagenten oder Westeuropäer? Die Politik der Bundesregierung und das Bild der italienischen Gastarbeiter 1955-1970

Als 1955 der Anwerbevertrag mit Italien geschlossen wurde, spielte in der Bundesrepublik neben wirtschaftlicher Laissez-faire-Politik paternalistisches Staatsverständnis eine erhebliche Rolle. Bei der Migrationspolitik wirkte es sich in von klischeehaften Ängsten vor Kommunisten, Kriminellen und Kranken beeinflussten Versuchen aus, den Wanderungsprozess zu kontrollieren, sowie in sozialpolitischen Bemühungen um die italienischen Arbeiter, weil die Standards der deutschen Beschäftigten nicht unterboten werden sollten. Angesichts des Primats der Wirtschaft in der Arbeitsmarktpolitik kam das paternalistische Staatsverständnis in der Praxis oft nicht zum Tragen. Gleichwohl prägte es die »Gastarbeiterpolitik« entscheidend mit. Der italienischen Arbeitsmigration kam im Rahmen dieser Politik eine Vorreiterrolle zu, die nicht nur durch die EWG-Mitgliedschaft Italiens geprägt war, sondern auch durch die tabuisierte deutsche Erinnerung an die Zwangsarbeit von Italienern unter dem Nationalsozialismus, durch die Bindung der deutschen katholischen Kirche an den Vatikan und durch einen touristischen Blick auf Italien.

Die langfristigen Folgen der Arbeitsmigration wurden in den 1950er und 1960er Jahren von der Politik nicht erwogen. Aus dieser abwartenden Haltung folgte bald eine Doppelstrategie, die einerseits Integration ermöglichen sollte, andererseits die Rückkehrforderung beibehielt. Dies hat der Integration der Migranten lange Zeit Grenzen gesetzt. Andererseits hat die Hochphase der Arbeitsmigration in die Bundesrepublik bis zum Anwerbestopp 1973 unter ökonomisch günstigen Bedingungen stattgefunden, was die Integration wiederum förderte. Heute werden die in Deutschland lebenden Italiener kaum noch als »arme Südländer« mit kommunistischen Neigungen betrachtet, sie gelten vielmehr als erfolgreiche und beliebte Westeuropäer. Solche Imaginationen stehen in einer ambivalenten Beziehung zur sozialen Realität. Einerseits prägen sie den Blick auf diese Wirklichkeit und beeinflussen sie in ihrem Sinne; andererseits wäre es verfehlt, diese Imaginationen mit der sozialen Realität in eins zu setzen. Das Konzept der »ethnischen Minderheiten« ist vor dem Hintergrund kritisch zu sehen. Es läuft Gefahr, die Sinnkonstruktionen jener Individuen, die hier zu homogenen Minderheiten zusammengefasst werden, ungebührlich zu verkürzen. Letztlich liegt dem Ethnisierungs-Diskurs ein auf »Kultur« reduziertes statisches Verständnis von Identität zugrunde. Faktisch ist aber nicht nur das Selbstverständnis der Migranten, sondern auch das Fremdbild, das die gesellschaftliche Majorität ihnen zuordnet, inhomogen und veränderbar. Das belegen die bundesdeutschen Imaginationen über den italienischen »Gastarbeiter« anschaulich.

 

Andreas Kappeler
Nationsbildung und Nationalbewegungen im Russländischen Reich

Die nationale Frage im Russländischen Reich wird von der Forschung gegenüber sozialen und politischen Problemen vernachlässigt. Der Aufsatz plädiert am Beispiel der Revolution von 1905 für eine Aufwertung nationaler Faktoren in der Interpretation der Russischen Revolution. Dafür sprechen auch die Ergebnisse aktueller Forschungsarbeiten zur Nationsbildung im Zarenreich. Vorgestellt werden Fallstudien zu den Ukrainern und Weißrussen, den Georgiern, den Muslimen des Wolga-Uralgebiets und Südkaukasiens und den Russen. Es zeigt sich, dass Russland mit seiner Heterogenität an Ethnien, Religionen, Wirtschaftsweisen und Lebensformen ein Experimentierfeld für die Nationalismusforschung darstellt und das Spektrum europäischer Nationsbildung erweitern kann. Da sich Nationsbildung in einem Staat, der (bis 1905) weder eine Verfassung, bürgerliche Rechte und Freiheiten noch legale Parteien und eine politische Partizipation kannte, weitgehend im nichtöffentlichen Raum abspielte, sind neue Erklärungsmodelle und Untersuchungsmethoden notwendig.

 

Ludger Mees
Der spanische »Sonderweg«. Staat und Nation(en) im Spanien des 19. und 20. Jahrhunderts

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist Spanien wohl die Demokratie in Europa, in der sich die Konflikte zwischen verschiedenen nationalen Identitäten mit der größten Deutlichkeit und Virulenz manifestieren. Ohne zu übertreiben, darf wohl behauptet werden, dass die politische und administrative Regulierung des Verhältnisses zwischen Zentralstaat und den peripheren Nationalismen zu den schwerwiegendsten Problemen des postfrankistischen Spaniens gehörten und immer noch gehören. Der Terrorismus ist nur eine, wenn auch dramatische, Begleiterscheinung dieses tiefer liegenden politischen Problemkomplexes.

Der vorliegende Aufsatz versucht, den historischen Wurzeln dieses Phänomens auf den Grund zu gehen. Methodologischer Ausgangspunkt ist dabei die etwas abgeänderte Vorstellung eines spanischen Sonderweges zur Moderne, der sich im Wesentlichen mit dem Kontrast zwischen dem Aufstieg und der (oft auch imperialistischen) Konsolidierung der europäischen Nationalstaaten im 19. Jahrhundert auf der einen Seite und der unaufhaltsamen Dekadenz Spaniens, der ehemals mächtigsten Kolonialmacht auf der anderen Seite, beschreiben lässt. Während sich im 19. Jahrhundert in Westeuropa der moderne Nationalstaat mit all den klassischen Weberschen Attributen (Gewaltmonopol, Territorium, Herrschaftslegitimation, Herrschaftsinstrumente) weitgehend durchgesetzt hatte, wurde in Spanien das liberale Gewaltmonopol durch absolutistische Restauration, in drei Bürgerkriegen und durch zahlreiche Militär-Pronunciamientos permanent herausgefordert.

Diese spanische Sonderentwicklung mit ihren bis in die Gegenwart reichenden Folgewirkungen wird in vier konsekutiven Analyseschritten herausgearbeitet. Dabei geht es zunächst um die Probleme und Defizite des spanischen Nationalstaates und seiner schwachen und territorial gespaltenen bürgerlichen-liberalen Trägerschichten . An zweiter Stelle werden die offene Krise dieses Staates und die als Folge des demütigenden Verlustes der letzten Kolonien immer stärker zu Tage tretenden »Zweifel an der Nation« untersucht. Die peripheren Nationalismen in Katalonien, dem Baskenland und Galizien bilden das Thema des folgenden Kapitels. Abschließend wird dann an vierter Stelle das Problem der politisch motivierten Gewalt im Baskenland als weiteres Sondermerkmal des komplizierten Verhältnisses zwischen Staat und Nation(en) im Spanien des 20. Jahrhunderts behandelt. Über die bewusst umfangreich angelegten Fußnoten soll dem interessierten Leser gleichzeitig ein relativ aktueller Überblick über den gegenwärtigen Forschungsstand zu diesem im deutschsprachigen Raum wenig bekannten Thema vermittelt werden.

 

Christian Geulen
Blonde bevorzugt. Virchow und Boas: Fallstudie zur Verschränkung von >Rasse< und >Kultur< im ideologischen Feld der Ethnizität um 1900

Eine Geschichte ethnischer Grenzziehungen kann nicht darauf verzichten, zugleich eine Geschichte des Begriffs und der Ideologie von »Ethnizität« zu sein. Davon ausgehend untersucht der Aufsatz in Form einer vergleichenden Fallstudie dieVerschränkung von biologischem und kulturwissenschaftlichem >Wissen< im Diskursfeld der Ethnizität um 1900. Im Mittelpunkt der Studie stehen zwei anthropometrische Forschungsprojekte: die von Rudolf Virchow in den 1870/80er Jahren durchgeführte Untersuchung über die Verteilung der »Blonden« und »Brünetten« im Deutschen Reich und die von Franz Boas um 1910 durchgeführte Untersuchung zur »Veränderung der Kopfform bei amerikanischen Einwanderern«. Beide Forschungsprojekte gelten als Versuche, den zeitgenössischen Rassismus mit den Mitteln der Wissenschaft zu widerlegen, und als wichtige Schritte auf dem Weg zu einem modernen >kulturwissenschaftlichen< Begriff der Ethnizität. Ihre nähere Untersuchung zeigt jedoch, dass gerade der Versuch einer Aufhebung des Spannungsfeldes von >Rasse< und >Kultur< nur zur Übertragung der Funktionen des einen Begriffs in das Bedeutungsfeld des anderen führte. So kam bei Virchow am Ende ein erweiterter Rassenbegriff zum Tragen, der gerade durch die Inkorpration von >Kultur< die zeitgenössisch geltenden >Rassengrenzen< (etwa zwischen >Germanen< und Juden) bestätigte. Demgegenüber führte bei Boas ein um das >Biologische< erweiterte Kultur-Begriff zu Thesen über die gesellschaftliche Kontrollierbarkeit körperlicher Merkmale und damit in die Nähe der Eugenik. Eingerahmt von methodischen und theoretischen Überlegungen zu den Möglichkeiten ideologiekritischer Geschichtswissenschaft heute werden diese Befunde mit Blick auf die aktuellen Positionen in den Debatten über Universalismus und Kulturrelativismus interpretiert,um die langfristigen Effekte der damaligen >Rassentheorien< sichtbar zu machen und auf eine Tradition des heutigen Begriffs der Ethnizität hinzuweisen, die selten bedacht wird.

 

Stefan Berger
In the Fangs of Social Patriotism: The Construction of Nation and Class in Autobiographies of British and German Social Democrats in the Inter-War Period

In diesem Aufsatz werden autobiographische Texte von sieben britischen und neun deutschen Sozialdemokraten danach befragt, was sie über das Verhältnis von Klasse und Nation im Selbstverständnis der Labour Party und der SPD der Zwischenkriegszeit aussagen. Dabei interessiert vor allem die diskursive Positionierung von Parteiführern beider Parteien im Hinblick auf kollektive Identitätskonstruktionen. Fast überall erfolgt die narrative Konstruktion einer Integration in Staat und Gesellschaft in der Form einer doppelten Fortschrittsgeschichte: zum einen der individuelle Fortschritt des Ich-Erzählers, zum anderen der kollektive Fortschritt einer sozialen Gruppe. Erfahrungen von Armut, sozialer Not und politischer Verfolgung dienen als Ausgangspunkt der Erzählung. In den britischen Erzählungen wird der Motor des Fortschritts eindeutig im britischen Parlament verortet, während bei den deutschen Beispielen die Partei und die Revolution entscheidend sind. Das Verhältnis gegenüber den Klassendiskursen ist unterschiedlich. So gibt es in den britischen Texten eher selten Bezüge zum Klassenverständnis des Ich-Erzählers, während die häufige Verwendung des Klassenbegriffs in den deutschen Texten zentral ist. In den britischen Texten herrscht bei der Darstellung industrieller Beziehungen ebenso wie bei der Beschreibung von Beziehungen zu Mitgliedern anderer sozialer Gruppen wesentlich mehr Verlangen nach sozialer Harmonie. In der Darstellung von Beziehungen zwischen Ich-Erzählern und Arbeitern tut sich bei britischen wie deutschen Autobiographien ein Graben auf, wobei dieser in den deutschen Texten wesentlich tiefer zu sein scheint. Mit Blick auf den Nationsdiskursen fällt auf, dass Konstruktionen eines sozialen Patriotismus durchaus häufig vorkommen, wobei es den britischen Erzählern leichter fällt, positive nationale Traditionslinien zu zeichnen. Die jeweilige Sprache des Internationalismus und lokalen Patriotismus ist dabei den Nationsdiskursen eher ergänzend bei- als über- oder untergeordnet. Viele Texte sind zudem durch nationale Stereotypisierungen und Überlegenheitsgefühle charakterisiert. In der Entscheidung für die Nation zu Beginn des ersten Weltkrieges spiegeln sich ähnliche Argumentationsmuster in deutschen wie in britischen Texten. Insgesamt fällt es den britischen Autobiographien allerdings leichter, einen Begriff von sozialem Patriotismus zu entwickeln, weil er in vielem an den vorhandenen offiziellen Nationalismus anknüpfen kann, während der deutsche soziale Patriotismus nur als oppositioneller Nationalismus zu konstruieren sei.

 

Rolf Wörsdörfer
»Slawischer« und »lateinischer« Katholizismus im Nationalitätenkonflikt. Der Streit um die Liturgie- und Unterrichssprache in den adriatischen Diözesen Österreich-Ungarns, Italiens und Jugoslawiens (1861-1941)

Die meisten Bistümer an der nordöstlichen Adria zeichnen sich durch eine komplexe ethnisch-nationale Gemengenlage aus. Hieraus und aus dem Aufeinandertreffen des italienischen Irredentismus und der südslawischen Einigungsbewegung ergab sich ein Sprachenstreit, der sich durch den ganzen behandelten Zeitraum zog. Für Julisch Venetien tyisch war ein auch auf dem religiösen Feld spürbarer Stadt-Land-Gegensatz: die Stadtbevölkerung zwar nicht »atheistisch«, wohl aber in religiösen Fragen eher »gleichgültig«. Da die überwiegende Mehrheit der Stadtbevölkerung zumindest katholisch getauft war, konnten zunächst nur die Nation und die Klasse, nicht aber die Konfession identitätsstiftend wirken.

Gleichgültig in religiösen Fragen war in erster Linie die italienische und die deutschsprachige Bevölkerung, nicht jedoch die slowenische und kroatische. Die Religiosität der julischen Slawen war vielmehr von nationalen Motiven durchdrungen. Unter den italienisch orientierten Katholiken rief das zunehmende nationale Selbstbewusstsein der Slawen Ängste vor dem Verlust der Latinität oder Italianität der julischen Kirche wach. Auf der Halbinsel Istrien standen die schwächsten Bastionen des italienischen und slawischen Nationalismus. In den Kirchen dominierte das Lateinische; slowenische und kroatische Priester waren jedoch bestrebt, das Kirchenslawische als liturgische Sprache (wieder) einzuführen.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Sprachenstreit sofort Teil des umfassenderen Konflikts zwischen der italienischen Besatzungsmacht und den slawischen Minderheiten. Es entstand eine quasi-schismatische Situation, in der italienische Religionslehrer ihre Schüler gegen die slawischen Priester aufhetzten. Der Konflikt erreichte seinen Höhepunkt kurz vor Abschluß des Konkordats zwischen Italien und dem Vatikan.

In den dreißiger Jahren dann wurde die Italianisierung des julischen Katholizismus vorangetrieben. Die Assimilationspolitik des faschistischen Italien gegenüber der slawischen Bevölkerung blieb jedoch ein Misserfolg; diskussionswürdig ist die These, dass sich viele katholische Slowenen und Kroaten von der italianisierten Kirche und vom Katholizismus überhaupt abwandten, dass also die Assimilationskampagnen schon zur Entchristianisierung der julischen Slowenen und Kroaten beitrugen, noch ehe die Propaganda der Partisanen einsetzen oder greifen konnte. Unter der italophonen Stadtbevölkerung vollzog sich exakt die gegenläufige Entwicklung. Mit dem Zusammenbruch des faschistischen Regimes gewann die Kirche als einzig verbliebene »italienische« Institution an Ansehen.

 

Rolf Steininger
Die Südtirolfrage

Wie in einem Brennglas findet sich in der Geschichte Südtirols ein Stück Geschichte des 20. Jahrhunderts wieder. Vergewaltigung einer Minderheit durch die Faschisten, das Zusammenspiel der Diktatoren Hitler und Mussolini, das 1939 mit der »Option« zur »ethnischen« Säuberung führen sollte. Nach 1945 in den Mühlen des Kalten Krieges, keine Rückkehr nach Österreich, dafür eine Autonomie, die sich als Scheinautonomie erwies.

Italien hatte Südtirol 1948 eine Autonomie zugestanden, die sich als Scheinautonomie erwies. Enttäuschte Hoffnungen führten so Ende der fünfziger Jahre zur Verschärfung der Lage in Südtirol - mit der Forderung nach Selbstbestimmung und dann nach einer wirklichen Autonomie. Es folgte Österreichs Weg zur UNO, der begleitet war von Bombenattentaten in Südtirol. Dann gab es Tote, schließlich 1969 mit dem « Paket» den zweiten Versuch einer Autonomie. Nach jahrzehntelangen Verhandlungen erfolgte endlich 1992 die offizielle Beilegung des Streits zwischen Österreich und Italien mit einer Autonomie, die als Modell für die Lösung der mit dem neuen Nationalismus des ausgehenden 20. Jahrhunderts einhergehenden Problemen dienen könnte.

 

Christoph Mick
Nationalisierung in einer multiethnischen Stadt. Interethnische Konflikte in Lemberg 1890-1920

Am Beispiel der Geschichte Lembergs und Ostgaliziens wird die Nationalisierung ethnokonfessioneller und sozialer Konflikte und der Zusammenhang von Krieg und Nationsbildung untersucht. Wie jede vorgestellte Gemeinschaft muss auch die Nation erfahrbar sein, jenen Identifikationsprozess in Gang zu setzen, der aus »Hiesigen« und Römisch-Katholiken Polen, aus »Hiesigen« und Griechisch-Katholiken Ukrainer und aus gläubigen und ungläubigen Juden Angehörige einer jüdischen Nation macht. In Feiern, Festen, nationalen Gedenktagen, Demonstrationen und Ritualen erlebten sich die Teilnehmer als Einheit, als Angehörige der Nation.

Die Nationalisierung kam zwischen 1890 und 1920 weit voran. Schon vor dem Krieg wurden die sozialen Gegensätze und ethnokonfessionellen Unterschiede auf dem Land durch gemeinsame Bemühungen ukrainischer und polnischer Nationalisten national aufgeladen. Kennzeichnend dafür war die Entwicklung der Agrarunruhen 1920, die von Gewalt begleiteteten Wahlkämpfe zu Reichstag und Landtag und die scharfen Auseinandersetzungen polnischer und ukrainischer Studenten in Lemberg.Der Erste Weltkrieg und der ukrainisch-polnische Krieg 1918/19 waren in vieler Hinsicht der Ort und die Zeit, in der die »vorgestellten Gemeinschaften« erfahrbar wurden. Es gibt einen doppelten - inneren und äußeren - Zusammenhang von Krieg und Nationsbildung. Der äußere Zusammenhang besteht darin, daß Ukrainer und Polen zunächst politisch und 1918/19 auch militärisch um ein Territorium mit eindeutigen Grenzen kämpften, auf dem schließlich der jeweilige Nationalstaat entstehen sollte. Der innere Zusammenhang zwischen Krieg und Nation besteht in den Folgen des Krieges und der Kriegserfahrungen für die innere Kohärenz der potentiellen Nation. Die Vorstellung »Nation« konnte dann mit konkretem Inhalt gefüllt werden. Viele Menschen kamen erst im Krieg und vor allem im Bürgerkrieg gegen andere ethnokonfessionelle Gruppen zu einer Nationalität. Das gemeinsame Schicksal, das nicht zuletzt wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe überhaupt erst gemeinsam war, stärkt den inneren Zusammenhalt und ist ein zentraler Faktor für Nationsbildung. Dieser Vorgang kann auch durch den Versuch der Negierung der spezifischen Nationalität in Gang gesetzt werden. Die russischen Besatzer sahen im Ersten Weltkrieg die Ruthenen/Ukrainer als Zweig des russischen Volkes, russifizierten ukrainische Schulen, diskriminierten die unierte Kirche und strebten eine Bekehrung der griechisch-katholischen Bevölkerung zur Orthodoxie an. Der Angriff auf die eigene Konfession und Sprache provozierte Widerstand und war geeignet, das »Anderssein« zu unterstreichen. Für die jüdischen Lemberger war der von polnischen Soldaten und Zivilisten verübte Pogrom im November 1918 traumatisch und stürzte vor allem die Assimilationsanhänger in eine schwere Identitätskrise.

Die gegenseitige Gewalterfahrung von Polen, Juden und Ukrainern in Krieg und Bürgerkrieg wurde in Friedenszeiten in Gedenkverstanstaltungen in ritualisierter Form erneuert und gelegentlich durch eine neue Gewalt aktualisiert, was die Lösung oder Milderung der ethnokonfessionellen Konflikte erheblich erschwerte. Polen gewann zwar schließlich den Krieg um Lemberg und Ostgalizien, doch das Zusammenleben zwischen Polen, Ukrainern und Juden in Lemberg war schwieriger geworden. Eine gemeinsame Aufarbeitung der Gewalterfahrungen fand nicht statt. Die unbewältige Vergangenheit trug so den Keim künftiger Konflikte in sich.

 

Andreas Eckert
Tradition – Ethnizität – Nationsbildung. Zur Konstruktion von politischen Identitäten in Afrika im 20. Jahrhundert

Dieser Beitrag versucht, die ambivalente und vielschichtige Konstruktion ethnischer Identitäten in Afrika im 20. Jahrhundert nachzuzeichnen und vor allem die Interaktion von lokalen und globalen Kräften in diesem Prozess in den Blick zu nehmen. Dabei wird von der Prämisse ausgegangen, dass in Afrika ethnisch begründete Identitäten und damit mittelbar sogenannte tribale Konflikte von der Herausbildung territorialer (Kolonial-)Staatlichkeit maßgeblich beeinflusst wurden. Die jüngere historisch-ethnologische Afrikaforschung, deren wichtigste Einsichten und Ergebnisse dieser Aufsatz vorzustellen sucht, hat herausgearbeitet, dass Ethnizität im modernen Afrika eine soziale Konstruktion der Kolonialperiode ist: das Ergebnis der Auseinandersetzung vorkolonialer Gesellschaften mit den sozialen, ökonomischen, kulturellen und politischen Kräften des Kolonialismus. Ethnizität in Afrika, so das zentrale Argument, ist das Produkt eines kontinuierlichen historischen Prozesses. Ethnizität ist gleichzeitig alt und neu, immer sowohl in der Vergangenheit verwurzelt als auch partiell im Entstehen begriffen. Kolonialstaaten beruhen auf Allianzen der Europäer mit lokalen »big men« und schufen ethnisch definierte administrative Einheiten. Dieser Prozess wurde auf vielfache Weise verstärkt: durch europäische Vorstellungen von fein säuberlich abgegrenzten und kulturell homogenen »Stämmen«; durch bürokratische Anliegen des Demarkierens, Klassifizierens und des Zählens der Bevölkerung; durch die Aktivitäten von Ethnologen und Missionaren. Die Schaffung von Ethnien in Afrika war aber auch an zwei Aspekte gebunden, die stärker auf die afrikanische »Agency« verweisen: zum einen an gesellschaftsinterne Auseinandersetzungen über moralische Ökonomie und politische Legitimität, welche jeweils mit der Definition von ethnischen Gemeinschaften eng verknüpft waren; zum anderen an externe Konflikte über den Zugang zu Ressourcen von Modernität und ökonomischer Akkumulation. Die Geschichte ethnischer und lokaler Identitäten im Afrika des 20. Jahrhunderts steht dabei für eine Vielzahl von ineinander verschlungenen und sich oft widersprechenden Geschichten. Die konkreten Prozesse der Schöpfung ethnischer Identität sind historisch und regional spezifisch. Die in diesem Aufsatz detailliert vorgestellte Geschichte Ruandas gehört sicherlich zu den bedrückendsten Beispielen für die zuweilen extrem brutalen Ausformungen ethnisch begründeter politischer und sozio-ökonomischer Konflikte. Dieses Beispiel zeigt, wie erst in der Kolonialzeit ethnische Kategorien jene Bedeutung erlangten, die sie Ausschluss, Unsicherheit, Gewalt und Tod produzieren ließen. Allerdings sollte dieses traurige Exempel nicht dazu verleiten, eine prinzipielle Verknüpfung von Ethnizität und Gewalt in Afrika zu unterstellen. In zahlreichen Ländern Afrikas haben durchaus vorhandene ethnische Konflikte – zumindest bislang – noch nicht zu umfassenden Gewaltakten geführt.


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