ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Archiv für Sozialgeschichte
Band XXXVII /1997 - Zusammenfassungen


Shulamit Volkov
Juden als wissenschaftliche "Mandarine" im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Neue Überlegungen zu sozialen Ursachen des Erfolgs jüdischer Naturwissenschaftler

Ausgangspunkt des Aufsatzes ist ein älterer Artikel der Verfasserin, der vor ungefähr zehn Jahren in der "Historischen Zeitschrift" veröffentlicht wurde. Darin wurden vorliegende Erklärungen für den großen Erfolg von Juden in den modernen Naturwissenschaften überprüft und die These aufgestellt, eine spezielle Verbindung von Offenheit und Ausschluß, die Juden im deutschen Universitätssystem erfuhren, habe sie auf dem Weg zum Ruhm gefördert: Wegen antisemitischer Diskriminierungen arbeiteten Juden in besonderen "kreativen Nischen" der zeitgenössischen Wissenschaft. Paradoxerweise erfuhren sie so die "Vorteile der Diskriminierung". Um diese Schlußfolgerungen zu überprüfen, werden in dem vorliegenden Aufsatz zwei neue Gruppen von besonders erfolgreichen Wissenschaftlern betrachtet: 12 Juden und 12 Nicht-Juden. Die soziale Herkunft dieser jüdischen Wissenschaftler ähnelt sehr stark der sozialen Schichtung der jüdischen Minderheit im Deutschen Kaiserreich insgesamt. Sie weicht zudem deutlich von dem Sozialprofil der parallelen Gruppe von besonders erfolgreichen nicht-jüdischen Naturwissenschaftler ab. Während diese vornehmlich aus dem Bildungsbürgertum kamen, weisen die untersuchten Juden fast durchgängig einen gewerblichen Mittelklassen-Hintergrund auf. Offensichtlich gelang es selbst jüdischen Eltern aus der unteren Mittelklasse, ihren Kinder den Zugang zu der Bildung zu verschaffen, die für Erfolg in den Universitäten nötig war. Dies beeinflusste auch den Verlauf der Karrieren jüdischer Naturwissenschaftler. Fritz Rieger hat zwischen "Orthodoxen" und "Modernisten" innerhalb der deutschen akademischen Gemeinschaft unterschieden. Kürzlich ist mit Bezug auf den wissenschaftlichen "Denkstil" des einzelnen Wissenschaftlers eine weitere Unterscheidung zwischen "Pragmatikern" und "Generalisten" vorgeschlagen worden. Trotz ihrer sozialen Position und ihrer relativen Unabhängigkeit gegenüber den allgemein akzeptierten kulturellen Traditionen Deutschlands können die in diesem Aufsatz untersuchten Juden nicht den "Modernisten" zugeordnet werden. Ebensowenig tendierten sie dazu, "Pragmatiker" zu werden. Anders als erwartet, waren sie nur selten Kritiker der herrschenden Einstellungen ihrer Umgebung. Stattdessen gehörten sie mehrheitlich zu den typischen "Generalisten" und sie teilten die kulturellen Präferenzen ihrer stärker traditionell orientierten Kollegen. Obwohl sie oft an den Rand des akademischen Milieus abgedrängt wurden, bestand ihre wissenschaftliche und soziale Ambition darin, den ihnen auferlegten Status als Außenseiter zu überwinden, um sich der deutschen intellektuellen Elite ihrer Zeit anzugleichen.

 

Helga Grebing
Jüdische Intellektuelle in der deutschen Arbeiterbewegung zwischen den beiden Weltkriegen

Der Aufsatz befaßt sich mit der Rolle jüdischer Intellektueller in der deutschen Arbeiterbewegung mit dem Schwerpunkt in der Zeit der Weimarer Republik. Methodisch wird statt der Vermittlung von Einzelbiographien ein kollektivbiographischer Ansatz gewählt und eine Gruppe von 56 Männern und Frauen gebildet, die als Intellektuelle im weitesten Sinne gelten können und aus jüdischen Familien stammten, was sie selbst überwiegend nicht betont haben. Primär verstanden sie sich als Sozialdemokraten, Sozialisten und Kommunisten, die ihre jüdische Herkunft nicht als bedeutungsvoll ansahen, wenngleich sie sie auch nicht verleugnet haben - eine Position, die mit dem Begriff der 'nichtidentischen Identität' bezeichnet wird. Die Biographien der 56 Personen werden unter bestimmten Kriterien erschlossen: nach Generationskohorten, Geburtsorten, Herkunftsmilieu, beruflichen Tätigkeiten sowie dem Zeitpunkt des ersten politischen Engagements und der Orientierung der politischen Option. Darüberhinaus wird nach der politischen Einordnung gefragt, und es werden Untergruppen gebildet: moderate Reformer, entschiedene Reformer, moderate Revolutionäre, radikale Revolutionäre. Danach wird exemplarisch die Wirkungsgeschichte der so gekennzeichneten jüdischen Intellektuellen dargestellt, wobei noch einmal gesondert auf die Frauen in der Gruppe der 56 eingegangen wird. Fast alle, die 1933 noch lebten, wurden in die Emigration (vorzugsweise in die USA) gezwungen; drei wurden Opfer des Holocaust. Einige wandten sich ihren jüdischen Ursprüngen zu; die wenigsten kehrten nach 1945 dauerhaft nach Deutschland zurück. Die erheblichen Anstöße zur politisch-kulturellen Modernisierung, die von ihnen ausgegangen waren, konnten daher keine Fortsetzung finden.

 

Martin Liepach
Die Rezeption sozialdemokratischer Politik in jüdischen Zeitschriften der Weimarer Republik 1924-1932

Obwohl die Verteidigung der Demokratie und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus sowohl im Interesse der Sozialdemokratie als auch der Judenheit lagen, kann man für die Jahre der Weimarer Republik schwerlich von einem Bündnis zwischen beiden Gruppen sprechen. Durch die Analyse der Rezeption sozialdemokratischer Politik in den auflagestärksten jüdischen Zeitschriften der Weimarer Republik legt der Aufsatz die Konfliktfelder offen, die aus jüdischer Sicht bestanden. Es wird dabei deutlich, daß übereinstimmende Punkte zwischen dem Großteil der jüdischen Bevölkerung und der Sozialdemokratie hinsichtlich Einstellungen, Wertorientierungen und Weltbildern kaum vorhanden waren. Die Sozialdemokratie ignorierte die Konfessionszugehörigkeit als politische Größe. Zur Erklärung dieser Kluft müssen neben sozialstrukturellen Gründen vor allem unterschiedliche Ausgangsprämissen im Kampf gegen den Antisemitismus und die verbandspolitischen Hintergründe der Zeitschriften in Betracht gezogen werden.

 

Moshe Zimmermann
Zukunftserwartungen deutscher Juden im ersten Jahr der Weimarer Republik

Dies ist ein Aufsatz aus einer Reihe von Artikeln des Autors, die sich mit den Zukunftserwartungen und -perspektiven vergangener Gesellschaften beschäftigen. Die in der Retrospektive betrachtete Zukunft der Vergangenheit lenkt die Aufmerksamkeit des Historikers auf die vielfältigen Alternativen, die in der Vergangenheit existierten, auf ihr relatives Gewicht und ihre Plausibilität. Der Aufsatz untersucht die deutsch-jüdische Gemeinschaft innerhalb des Rahmens der deutschen Gesellschaft an einem wichtigen Punkt der Geschichte, dem Ende des Ersten Weltkrieges und der Novemberrevolution. Diese Blick auf die Zukunftsperspektiven von 1918/19 trägt dazu bei, die Haltungen und Reaktionen von Juden auf die tatsächlichen Entwicklungen zu erklären. Die wichtigsten Punkte in den Zukunftserwartungen deutscher Juden bezogen sich 1918/19 auf den Ausgang des Krieges, den zu erwartenden Charakter des neuen politischen Systems, die kommunistische Bedrohung, die Zukunft Osteuropas und der dort lebenden Juden sowie die Bedeutung Palästinas für das jüdische Leben. Eine Analyse dieser Erwartungen modifiziert das herkömmliche Bild von den deutschen Juden als Unterstützern von Sozialismus und Revolution sowie als Gegnern des Zionismus.

 

Jack Jacobs
Eine "höchst bemerkenswerte 'Jüdische Sekte'"? Jüdische Identität und das Institut für Sozialforschung in den Jahren der Weimarer Republik

Das Institut für Sozialforschung war zwar nie eine im eigentlichen Sinne jüdische Institution; unter seinen Mitgliedern aber befanden sich sehr viele Personen jüdischer Herkunft. Alle in Frankfurt lebenden, aktiven Vollzeitbeschäftigten des Instituts in der Zeit vor dessen Vertreibung aus Deutschland - Horkheimer, Pollock, Grossmann, Fromm und Löwenthal - waren Juden. Für die Erklärung der Vorgeschichte des Horkheimer-Zirkels sind der jüdische Familienhintergrund und die Lebenswege dieser Männer bedeutsam. Gershom Scholem, der persönlich mit allen leitenden Persönlichkeiten des Instituts bekannt war, meinte einmal scherzhaft, das Institut sei unter der Leitung Horkheimers eine der "drei am meisten bemerkenswerten 'jüdischen Sekten' des deutschen Judentums" gewesen. Dabei war er sich der Tatsache bewußt, daß einige Mitglieder des Institut mit dieser Bewertung keinesfalls einverstanden gewesen wären. Dennoch erscheint Scholems Urteil berechtigt - unabhängig davon, ob die Institut-Mitarbeiter bereit waren, sich die Bedeutung ihrer jüdischen Abstammung für ihr Leben und Denken einzugestehen (wie Löwenthal, Fromm und Horkheimer) oder ob sie davon (wie Weil) ihr Leben lang nichts wissen wollten. Ohne Zweifel kamen sie alle auf verschiedenen Lebenswegen in das Institut. Fromm und Löwenthal hatten sich für Judaismus und Zionismus engagiert; Grossmann war in der ostjüdischen Arbeiterbewegung aktiv gewesen. Horkheimer und Pollock rebellierten gegen die Lebensweise, die Ziele und Werte ihrer reichen jüdischen Väter. Trotz dieser Unterschiede aber erweisen sich die biographischen Wege, die diese Männer an das Institut führten, stets als spezifisch jüdische Lebenswege.

 

Jakob Borut
"Das ungewohnte Bild jüdischer Wahlkampfversammlungen". Zum Stilwandel innerjüdischer Wahlkämpfe in der Weimarer Republik

Der Aufsatz untersucht den Wandel im Wahlkampfstil liberaler deutscher Juden im Kaiserreich und in den 1920er Jahren. Während man in Berlin bereits gegen Ende des 19.Jahrhunderts zu den Mitteln der Massenpropaganda gegriffen hatte, stützten sich die Liberalen in den Provinzgemeinden, wie z.b. im Rheinland oder in Westfalen, noch zu Beginn der 1920er Jahre auf das System der Honoratiorenpolitik. Im Laufe der Weimarer Republik veränderte sich aber auch hier schrittweise der Charakter der liberalen politischen Agitation - ein Wandel, der sich direkt aus dem Wandel des allgemeinen politischen Klimas in Deutschland ergab und der in Parallelität zu generellen Veränderungen innerhalb der liberalen Parteien gesehen werden muß. Dieser Umstand illustriert eindrücklich den starken Einfluß der deutschen Politik auf das innerjüdische politische Geschehen. Gegen Ende der 1920er Jahre waren die im Gegensatz zur alten Honoratiorenpolitik stehenden Mittel der Massenpolitik, die man auf liberaler Seite zunächst so stark abgelehnt hatte, zur akzeptierten Wahlkampfmethode auch der Liberalen geworden. Die Radikalisierung des Wahlkampfes führte zu intensiven Gefühlen gegenseitiger Abneigung zwischen den verschiedenen politischen Strömungen innerhalb der deutschen Judenheit. Ignoriert wurden die Interessen der allgemeinen jüdischen Öffentlichkeit als einer Minderheit innerhalb einer zunehmend feindselig eingestellten Umwelt. Erst die Machtergreifung der Nationalsozialisten bereitete diesen Auseinandersetzungen ein Ende.

 

Claudia Prestel
Frauenpolitik oder Parteipolitik? Jüdische Frauen in innerjüdischer Politik in der Weimarer Republik

Der Beitrag geht der Frage nach, wie jüdische Frauen in innerjüdischer Politik in der Weimarer Republik agierten, d.h. in den jüdischen Gemeinden, den Landesverbänden der Gemeinden sowie den politischen Organisationen des deutschen Judentums und welcher Rethorik sie sich bei der Rechtfertigung ihrer Politik bedienten. Der Aufsatz zeigt die vielschichtige Identität dieser Frauen auf, die sich als Jüdinnen, Deutsche und als Menschen definierten. Das Bekenntnis zum Deutschtum konnte kulturelle oder nationale Zugehörigkeit bedeuten. Die Definition als Mensch entsprach dem Bedürfnis, sich einer grenzenlosen, umfassenden Gemeinschaft zugehörig zu fühlen und ließ die Jüdinnen in Deutschland das Gefühl des Ausgeschlossenseins vergessen. Die Zionistinnen strebten eher nach nationaler Politik, während für die liberalen Jüdinnen die tranzendentalen inneren Werte der Religion ausschlaggebend waren. Innerhalb des Kreises politisch aktiver Jüdinnen traten weltanschauliche und ideologische Konflikte offen zutage. Nach außen hin jedoch wollten die in der jüdischen Gemeinschaft aktiven Frauen - vor allem die liberalen - das Bild einer geschlossenen Front präsentieren. Zumindest in ihren Methoden bemühten sie sich, die von ihnen als frauenspezifisch definierten Strategien anzuwenden. Dabei waren sie im allgemeinen erfolgreich: Sie vermieden die Verunglimpfung ihrer Gegner, bemühten sich um Ausgleich und berauschten sich nicht an ihren eigenen Worten. Sie betrieben jüdische Frauenpolitik.

 

Yfaat Weiss
"Wir Westjuden haben jüdisches Stammesbewußtsein, die Ostjuden haben jüdisches Volksbewußtsein". Der deutsch-jüdische Blick auf das polnische Judentum in den beiden ersten Jahrzehnten des 20.Jahrhunderts

Der Blick deutscher Juden auf die osteuropäischen Juden war stets selbstreflektierend, indem er vor allem ihre Selbstwahrnehmung dokumentierte. Ziel des Aufsatzes ist es, das Selbstbild deutscher Juden, ihre Einstellung zum deutschen Staat und ihre Selbsteinschätzung bezüglich ihrer Stellung in der deutschen Gesellschaft an Hand ihrer Rezeption der Lage der Juden in Osteuropa herauszuarbeiten. Verstärkt durch die Ereignisse des Ersten Weltkrieges empfanden viele deutsche Juden eine Spannung zwischen dem deutsch-jüdischen Staatspatriotismus einerseits und ihrer Zugehörigkeit zum Judentum andererseits. Dies wurde auf die Verhältnisse in Osteuropa projiziert. Die Besetzung der von Juden dichtbesiedelten Territorien im polnischen Teil Rußlands durch deutsche Truppen 1914/15 bot für deutsche Juden den Anlaß, theoretische Vorstellungen für die Zukunft der Juden Osteuropa zu entwerfen und konkret für sie zu intervenieren. Der Aufsatz hebt besonders die Stellung der deutschen Zionisten hervor. Ihre Position als Anhänger des jüdischen Nationalismus unterstreicht die Kluft zwischen den Juden in Ost und West: Sie setzten bei den Ostjuden die Existenz eines nationaljüdischen Charakters voraus, hielten sich selbst aber nicht für eine nationale Minderheit. Selbst unter den Zionisten bestand keine jüdische Interessengleichheit.

 

Ludger Heid
"Dem Ostjuden ist Deutschland das Land Goethes und Schillers". Kultur und Politik von ostjüdischen Arbeitern in der Weimarer Republik

Seit den 1880er Jahren gab es - infolge zaristischer Pogrome, die in Osteuropa Fluchtbewegungen auslösten - in Deutschland Ostjuden, die zum größten Teil einem proletarischen Milieu zuzurechnen waren. Der enorme Bedarf an Arbeitskräften während des Ersten Weltkrieges veranlaßte Militärs und Wirtschaft, zur Ankurbelung der deutschen Rüstungsindustrie weitere ostjüdische Arbeiter - auch unter Zwang - für die deutschen Fabriken zu rekrutieren. Bis 1920 kamen etwa 150000 ostjüdische Arbeiter nach Deutschland. Allein 4000 von ihnen arbeiteten als Kumpel in den Kohlegruben des Ruhrgebiets unter Tage. Durch die politische Neuordnung in Osteuropa nach dem Weltkrieg, die von neuen Judenverfolgungen begleitet war, gelangten weitere zahlreiche Juden nach Deutschland, so daß im Jahre 1925 ein Fünftel der etwa 560000 in Deutschland lebenden Juden osteuropäischer Herkunft war. Das kulturelle Bedürfnis, das Zusammensein mit Gleichgesinnten, ein ausgeprägtes Vereinsleben ließen die ostjüdischen Arbeiter die vielfältigen Demütigungen durch eine antisemitisch eingestellte Umgebungsgesellschaft vergessen. Die wenigen Jahre zwischen dem Beginn des Ersten Weltkrieges und der wirtschaftlichen Depression nach 1929 reichten zwar nicht aus, um eine eigenständige ostjüdische Arbeiterkultur in Deutschland dauerhaft zu etablieren; dennoch vermochten es die ostjüdischen Arbeiter, ein breites Spektrum von eigenständigen Parteien und Vereinen zionistischer und sozialistischer Prägung und eine Arbeiterpresse aufzubauen. Auch wenn jüdische Arbeiter in Deutschland kulturell isoliert blieben, schufen sie sich selbst einen beachtlichen und zu beachtenden menschlichen, sozialen und spirituellen Halt.

 

Joachim Schlör
Bilder Berlins als "jüdischer" Stadt. Ein Essay zur Wahrnehmungsgeschichte der deutschen Metropole

Eines der fragwürdigsten Motive in der Wahrnehmungsgeschichte Berlins ist das Bild (oder die Summe verschiedener Bilder) der deutschen Metropole als "jüdischer", als in besonderer Weise von jüdischer Kultur, jüdischem Leben geprägter oder durch sie gar charakterisierter Stadt. Das Stereotyp behauptet eine Deckungsgleichheit und Übereinstimmung zwischen dem "Wesen" Berlins und dem "Wesen" oder "Charakter" des modernen Judentums. Der Beitrag versucht, Gehalt und Funktion dieses Stereotyps in der deutsch-jüdischen und speziell der berlinisch-jüdischen Beziehungsgeschichte zwischen 1871 und 1933 nachzuzeichnen und zu analysieren. Dabei ist festzustellen, daß es nicht ausschließlich im antisemitischen Umfeld (dort allerdings häufig und in einer bewußten Koppelung von Judenfeindschaft und Großstadtfeindschaft) verwendet wird; auch unter positiven Vorzeichen wird nach einem "besonderen Verhältnis" zwischen der Stadt Berlin und dem modernen Judentum gefragt. Aus der Analyse dieser Debatten, in denen volkskundliche Autoren eine nicht geringe Rolle spielten, ergeben sich zahlreiche Hinweise auf den teilweise unerforschten Bereich der Vorstellungen und Vorurteile über das Judentum. Auch das "Angstprodukt Großstadt" als zentrale Herausforderung des Lebens in der Moderne erfordert weitere Forschung. Der Beitrag plädiert deshalb für eine engere Kooperation von stadt- und urbanisierungsgeschichtlichen Ansätzen mit Forschungen zur modernen jüdischen Kultur.

 

Albert Lichtblau
Emanzipation und Isolation. Juden in Politik und Gesellschaft Österreichs in den "langen" 1920er Jahren

Der Zusammenbruch des K.u.K.-Reiches veränderte die Situation der Juden im neuentstandenen Staat Österreich grundlegend. 90 Prozent der österreichischen Juden lebten jetzt in der Hauptstadt Wien. Durch Grenzen abgeschnitten von früheren Zuwanderungsgebieten waren Überalterung, Migrationsverlust und Bevölkerungsrückgang die Folgen. Die innenpolitische Entwicklung gestaltete sich für die Juden Österreichs zwiespältig: Das sozialdemokratisch dominierte "Rote Wien" bot einen Schutzraum der Toleranz und Partizipation. Etliche Politiker jüdischer Herkunft konnten in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei an prominenter Stelle agieren - allerdings nicht für spezifisch jüdische Interessen. Gleichzeitig dominierten auf Regierungsebene ab 1920 Parteien mit anitsemitischen Parteiprogrammen. "Politische Obdachlosigkeit" charakterisiert die Situation der Juden Österreichs bei der Suche nach neuer Positionierung im österreichischen Parteienwesen. Bei den internen Wahlen für die "Israelitische Kultusgemeinde" in Wien behielt bis zum Jahresende 1932 eine liberale Gruppe die Vormachtstellung, obwohl die Liberalen im allgemeinen politischen Leben mit dem Beginn der Ersten Republik bedeutungslos wurden. Ihre Ablösung durch zionistische Gruppierungen im Jahre 1933 signalisierte eine Trendwende, die in der Folge von der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland und der Entdemokratisierung in Österreich verstärkt wurde. Mit einem zehnprozentigen Bevölkerungsanteil in Wien stellten die Juden ein beachtliches Wählerreservoir, das sie jedoch kaum nutzen konnten. Bei den Gemeinderats- und Parlamentswahlen schienen jüdische Wähler anfangs bereit, ihre Stimmen zionistischen bzw. jüdischen Kandidaten zu geben. Erst deren Erfolgslosigkeit zwang jüdische Wähler, für die einzig relevante politische Gruppierung, die weitgehend auf antisemitische Propaganda verzichtete - die Sozialdemokratie -, zu stimmen. Innerhalb der Israelitischen Kultusgemeinden hingegen spielten sozialdemokratische Listen nur eine untergeordnete Rolle. Soziale Schichtung, Herkunft, die Stellung zur jüdischen Religion und die Haltung zum Zionismus waren weitere dynamisch wirkende Aspekte für die politische Orientierungssuche der Juden in den "langen" 1920er Jahren.

 

Antje Kuchenbecker
Ein "Rotes Palästina" im Fernen Osten der Sowjetunion - die Verbannung einer Idee. Die Auseinandersetzungen um ein autonomes Siedlungsgebiet in der frühen UdSSR

Im Jahre 1934 wurde Birobidzan, ein unwirtliches Gebiet im Fernen Osten, zur Jüdischen Autonomen Provinz der Sowjetunion erklärt. Über diese Gegend an der chinesischen Grenze sagte das sowjetische Staatsoberhaupt Michail Kalinin: "Birobidzan betrachten wir als einen jüdischen nationalen Staat." Bei dem Versuch, die zionistische Idee eines jüdischen Staates in der Sowjetunion zu verwirklichen, handelte es sich jedoch um einen kalkulierten Mißerfolg. Schon vor der Oktoberrevolution von 1917 hattten die Bolschewiki Theorien zum Nationalitätenkonflikt und zur "jüdischen Frage" entwickelt, die für die jüdische Bevölkerung die rasche Assimilation in der neuen sowjetischen Gesellschaft vorsahen. Nach der Machtübernahme der Bolschewiki diktierten jedoch nicht mehr vorrevolutionäre Theorien das politische Handeln, sondern konkrete Probleme. In der "jüdischen Frage" galt es, rasch einen Weg zu finden, die zunehmend verarmende jüdische Bevölkerung wirtschaftlich und politisch in die neue Sowjetgesellschaft zu integrieren. Eine Lösung der ökonomischen Misere schien damit gefunden, die Juden als Bauern auf dem Land in möglichst geschlossenen Kolonien anzusiedeln. Diese Kolonien könnten den Kern einer künftigen jüdischen Sowjetrepublik bilden - diese Idee verfochten vor allem ehemalige Anhänger der jüdischen Arbeiterpartei "Bund" und frühere Zionisten, die sich nach der Oktoberrevolution den Bolschewiki angeschlossen hatten, aber ihre nationalen Aspirationen nicht aufgeben mochten. Die Sowjetregierung willigte in den Plan ein. Den Vorschlag, eine solche Republik auf der Krim zu gründen, lehnte sie jedoch ab; stattdessen entschied sie sich für das entlegene und unwirtliche Birobidzan. Die Wahl eines so unattraktiven Ortes war ein geschickter Schachzug der Sowjetregierung: Sie ermöglichte es, die Gleichberechtigung der jüdischen Bevölkerung zu demonstrieren, die mit Birobidzan wie alle anderen nationalen Gruppen in der Sowjetunion über ein eigenes Gebiet verfügte. Gleichzeitig vermochte ein solches Gebiet nicht wirklich das Interesse der jüdischen Bevölkerung zu erregen. Vielmehr wurde diese von den Großstädten absorbiert. Genau dies half, das in den vorrevolutionären Theorien formulierte Ziel der Assimilierung der Juden zu erreichen.

 

Matthias Vetter
Emanzipation und Diktatur. Die sowjetischen Juden und die politische Macht in den 1920er Jahren

Bisher wurde das Verhältnis zwischen russischen Juden und sowjetischer Diktatur entweder zum Gegenstand antisemitischer Demagogie gemacht (bis hin zu dem von den Nationalsozialisten verbreiteten Schlagwort vom "jüdischen Bolschewismus") oder das Thema wurde aus Angst, mit den Demagogen verwechselt zu werden, umgangen. Der Beitrag ist daher ein erster Versuch, alle erreichbaren Daten zur Partizipation der sowjetischen Juden an der politischen Macht in den 1920er Jahren zusammenzutragen und die Gründe für die jüdische "Erfolgsgeschichte" unter der Sowjetdikatur aus politischen Traditionen und sozialen Strukturen wie Urbanisierung, Berufsstruktur und Alphabetisierung zu erklären. Diese Faktoren unterschieden die russischen Juden deutlich von der Mehrheitsbevölkerung und machten sie zu einer Reserve für Staats- und Parteiämter, obwohl die Bolschewiki vor der Revolution unter den jiddischsprachigen Massen keinen Rückhalt hatten und sich das Wohlwollen der Bolschewiki auf die kleine Schicht der assimilierten jüdischen Intelligenzija beschränkte. Die Mischung aus antisemitischen Pogromen und antikommunistischem Kreuzzug des Bürgerkriegs führte zu einer Interessengemeinschaft von Juden und Bolschewiki, die sich unter anderem im Aufgehen großer Teile des jüdischen "Bund" in der Kommunistischen Partei manifestierte. Doch nicht die jiddischsprachigen Einrichtungen des Sowjetstaates, die äußerlich eine Erfüllung der bundistischen Forderungen nach national-kultureller Autonomie darstellten, wurden zum auffälligsten Ort jüdischer Partizipation an der politischen Kultur des Sowjetstaates: Dies war vielmehr die Gesamtpartei, in der Juden in den 1920er Jahren einen Mitgliederanteil stellten, der ihren Bevölkerungsanteil stets um ein Vielfaches übertraf. Obwohl die Juden unter den aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit vom Sowjetstaat diskriminierten Bürgern ebenfalls überrepräsentiert waren, können die 1920er Jahre angesichts der nachgeholten Emanzipation und des beträchtlichen Aufstiegs von Juden unter dem neuen Regime als Epoche einer "jüdisch-sowjetischen Symbiose" angesehen werden.


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